Interview: Erstmals gemeinwohlorientierte Vergabekriterien von öffentlichem Land

Interview: Erstmals gemeinwohlorientierte Vergabekriterien von öffentlichem Land

Greifswald. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland ist Pachtland im Besitz von Kirchen, Kommunen, Städten und Bundesländern. Nach welchen Kriterien wird dieses Pachtland eigentlich vergeben? Wie kann der Umgang mit öffentlichem Land in Zukunft umweltgerecht und enkeltauglich gestaltet werden?

Verbreitet ist bislang die unhinterfragte Verlängerung bestehender Pachtverträge – unabhängig davon wie umwelt- und klimagerecht diese Flächen bewirtschaftet werden. In Greifswald hat es das zivilgesellschaftliches Bündnis „Unser Land schafft Wandel“ erstmals geschafft, neue Kriterien für die Vergabe von Pachtland durchzusetzen, das der Hansestadt Greifswald gehört. Im Gespräch mit Karin Vorländer vom IWE erläutert Björn Pasemann, Mitinitiator des Aktionsbündnisses, die Anliegen des Greifswalder Leuchtturmprojektes.

Das Aktionsbündnis „Unser Land schafft Wandel“ hat im November 2019 im Stadtparlament von Greifswald die Neuausrichtung der Vergabe der insgesamt 4700 Hektar landwirtschaftlichen Pachtlandes in Kommunalbesitz durchgesetzt. Wie kam es dazu?

Maßgeblich initiiert wurde das Aktionsbündnis von der Finc Foundation, einer privaten lokalen Naturschutzorganisation aus Greifswald, die auch international tätig ist. Im Frühjahr 2019 schlossen sich Bürgerinnen und Bürger Greifswalds und verschiedene Umweltgruppen zusammen, wie etwa Nabu, Greenpeace, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, das Bündnis Junge Landwirtschaft, Fridays for Future und Climate Justice, alles Gruppen, die in Greifswald aktiv sind. Aber es musste eine Organisation geben, die die Situation aufs Tapet brachte und die Möglichkeiten aufzeigte, die wir in Greifswald haben. Das war in diesem Fall Finc, zu der ich gehöre.

Wie ist das Thema einer gemeinwohlorientierten Vergabepraxis von Pachtland in den Fokus gekommen?

Uns treibt das Thema schon länger um. Wir beobachten negative Auswirkungen auf die Biodiversität rund um Greifswald, die hinlänglich nachgewiesen sind. Wir sehen ausgeräumte Landschaften, riesige Ackerschläge ohne dass da Hecken oder Bäume vorhanden sind, viel Pestizid-Einsatz und das Verschwinden vormals typischer Tiere und Pflanzenarten. Der Greifswalder Fluss Ryck lädt auch nicht gerade zum Baden ein.

Es wurde bekannt, dass die Stadt und die Universität Greifswald Land besitzen. Wir wollten, dass die Eigentümer öffentlichen Landes ihrer Verantwortung gerecht werden. Es sollte anerkannt werden, dass öffentliches Land das Land aller Bürgerinnen und Bürger ist. Das heißt, es geht dabei um das Landeigentum der Städte und Gemeinden, aber auch der Bundesländer. Wir wollen, dass dieses öffentliche Land im Sinne des Gemeinwohls und zukünftiger Generationen bewirtschaftet wird. Dazu gehört dann auch, dass die gesamte Vielfalt der Ökosystemleistungen erhalten bleiben soll und dass auch lokal anerkannt wird, dass die Landnutzung innerhalb planetarer Grenzen stattfindet.

Wer hat bislang das Land bearbeitet und genutzt?

Da gibt es verschiedene landwirtschaftliche Betriebe von bäuerlich kleinen, konventionellen Betrieben bis zu industriellen 3000 Hektar großen Betrieben, die dann teilweise auf städtischen Flächen wirtschaften. Nur 8,5 Prozent der städtischen Flächen werden bisher ökologisch bewirtschaftet.

Welche konkreten Forderungen zur Landvergabe hat das Bündnis aufgestellt?

Wir wollen, dass die öffentlichen Landeigentümer ihrer Verantwortung nachkommen. Die Landschaft sollte all ihre Funktionen erfüllen und nicht nur den höchstmöglichen Ertrag bringen. Einerseits soll Land der Produktion hochwertiger Nahrung dienen. Es soll andererseits Lebensraum für Menschen und Habitat für Tiere und Pflanzen sein. Gerade öffentliche Flächen sollten nicht nur dazu dienen, möglichst große Pachteinnahmen zu generieren. Über die Pachtpreise soll auch reguliert werden können, dass Landwirte eine Chance haben, naturverträglich und auskömmlich zu wirtschaften. Ganz konkret gefordert haben wir, dass die Landvergabe reformiert wird. Wir haben die Einführung von ökologischen und sozialen Kriterien bei der Landvergabe gefordert, dass über diese Landvergabe gewährleistet wird, dass die Betriebe zum Zuge kommen, deren Wirtschaftskonzept einen besonderen Mehrwert für die Gesellschaft bringt. Wichtig war uns, dass die übliche intransparente Praxis der uneingeschränkten Weiterverpachtung beendet wird. Nach Ablauf eines 12-jährigen Pachtvertrages sollen die Flächen neu ausgeschrieben werden und Pachtinteressenten können sich darauf bewerben. Dazu werden dann die neuen Kriterien abgefragt.

Was bringt denn nach den neuen Kriterien Punkte bei der Landvergabe?

In dem neuen, klaren Kriterienkatalog wird eine auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz ausgerichtete Bewirtschaftungsweise berücksichtigt. Es gibt Punkte für Ökolandbau und Betriebe, die Biodiversitätsmaßnahmen umsetzen, wenn etwa mindestens auf zehn Prozent der Flächen Blühstreifen, Brachen, Gewässerschutzstreifen, extensive Weiden oder Lerchenfenster angelegt werden. Es gibt einen ganzen Katalog von Naturschutzmaßnahmen, die zusätzlich für die Flächen festgelegt werden sollen. Es wird nicht mehr nach Höhe der Pacht, sondern nach Konzept entschieden. Darunter fällt dann auch, dass Junglandwirte und Existenzgründer bevorzugt werden sollen. Auch innovative Konzepte, wie solidarische Landwirtschaft, werden unterstützt. Ausschlusskriterium ist der Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen und Massentierhaltung. Der Bewerber muss im Pachtgebiet ortsansässig sein.

Gibt es ein Vorbild für Ihren Kriterienkatalog?

Wir waren im Gespräch mit der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und haben auch auf die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland geschaut, die ein Punktesystem hat, welches für uns aber nicht ausreichend war, weil dort Biodiversität und Ökologie nicht genügend ins Gewicht fallen Aber an deren grundsätzlichen Vorgehensweise haben wir uns orientiert.

Gab es Widerstände ?

Veränderungen sind häufig anstrengend. Die zuständigen Stellen in der Stadtverwaltung waren anfangs nicht gerade begeistert. Wir wissen bis heute immer noch nicht, wo genau die stadteigenen Pachtflächen liegen. Einige der großen industriellen Agrarbetriebe haben im Vorfeld stark gegen die Vorschläge mobilisiert und konnten den konservativen Block im Stadtparlament für den Erhalt des Status quo gewinnen. Da wurden Briefe geschrieben, Lobbyarbeit gemacht, Einzelgespräche geführt. Da geht es um Besitzstandswahrung und darum, eine Veränderung bei der Landvergabe zu verhindern.

Wir dagegen haben versucht, dass die Bevölkerung von der Thematik was mitbekommt. Wir haben Infostände gemacht, wir haben eine Petition gestartet, um die Dringlichkeit zu verdeutlichen und die Bevölkerung zu sensibilisieren.

Wie bleiben Sie mit denen im Gespräch, die weiter ablehnend sind? Die Abstimmung in der Bürgerschaft war ja mit 24 zu 16 Stimmen durchaus knapp.

Wir sind grundsätzlich dialogbereit. Allerdings muss in der Landwirtschaft ein Wille zur Veränderung erkennbar sein; als Grundlage, dass in der Fläche wirklich etwas passiert. Es muss anerkannt werden, dass es bei der bisherigen Bewirtschaftungspraxis Probleme gibt, aber das wird ja momentan leider häufig noch geleugnet.

Zielt ihre Initiative auf zertifizierten Öko-Anbau oder ist in Ihren Augen auch eine konventionelle Landwirtschaft akzeptabel, die womöglich nachhaltiger und ökologischer als bisher arbeitet?

Das ist eine spannende Diskussion. Ich persönlich bin der Meinung, dass wir unbedingt mehr Ökolandbau in der Fläche brauchen. Es sind ja in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 20 Prozent bis 2030 angestrebt. Das ist eine Zielmarke, aber das ist durchaus zu wenig.
Konventionelle Landwirtschaft, bei der viele Naturschutzmaßnahmen umgesetzt werden, kann aber durchaus hilfreich sein: Kleinere Schläge, Hecken, Randstreifen. Es muss nicht alles öko sein. Aber wir brauchen grundsätzlich einen Paradigmenwechsel. Wir müssen weg davon, dass der Ökolandbau als eine Art Premiumlandwirtschaft wahrgenommen wird. Wir müssen dahin kommen, dass eine naturverträgliche, enkeltaugliche Landwirtschaft der Standard ist.

Auch die Universität Greifswald und die Kirche sind Landbesitzer. Haben Sie sich auch an die gleichermaßen gewandt?

Wir haben uns zunächst auf die Stadt konzentriert, weil dort am offensichtlichsten wird, dass es sich um das Land der Bürgerinnen und Bürger handelt. Nichtsdestotrotz sind wir auch im Gespräch mit der Kirche und auch in der Universität ist ein Prozess angestoßen worden, der von den Studierenden ausgeht. Die Vollversammlung und der Asta haben sich dafür ausgesprochen, dass dort ein ähnlicher Prozess stattfinden muss.

Öffentliches Land gibt es nicht nur in Greifswald. Wie also weiter?

Ich ermutige dazu, in allen Städten nachzuhaken und beim Liegenschaftsamt nachzuforschen, ob und wie viele Flächen in öffentlicher Hand sind. Es wäre nötig, im Bundestag eine kleine Anfrage zu starten, um wirklich einen Überblick zu bekommen. Es geht ja nicht nur um die kommunalen Flächen, es geht ja auch um die Landesflächen. Brandenburg beispielsweise hat 30.000 ha landwirtschaftliche Flächen im Eigentum und die Frage ist, wie soll in Zukunft mit diesen Flächen umgegangen werden. Das muss stärker diskutiert werden. Wir wollen auch andere Gruppen inspirieren lokal aktiv zu werden und vor Ort Druck zu machen. Das gehört auf die Agenda, zu schauen, wie wird mit öffentlichen Flächen umgegangen. Wir haben sehr positive Rückmeldungen bekommen.

IWEInterview: Erstmals gemeinwohlorientierte Vergabekriterien von öffentlichem Land
Landwirtschaft am Scheideweg

Landwirtschaft am Scheideweg

Der Artikel von IWE-Vorstand Wilfried Bommert erschien in der Zeitschrift Ökologie & Landbau.

Auf dem Weg zu einer Ökologisierung des Agrar- und Ernährungssystems gibt es einige Hemmnisse. Diese sind oft in überkommenen Strukturen begründet. Kann ein Systemwechsel also überhaupt gelingen? Für Wilfried Bommert kommt es auf die kritische Masse an, damit die Vision „100% Bio“ Realität wird.

Hat Bio das Potenzial, die Welt zu ernähren? Un­möglich, urteilt die Allianz der industriellen In­tensivlandwirtschaft. Dagegen sprächen allein schon die Erträge, bei einem Minus von 25 Prozent könne der Hunger der zukünftig zehn oder zwölf Milliarden Erdbewoh­ner nicht gestillt werden. Dabei wird stillschweigend übergan­gen, dass das Potenzial des ökologischen Wegs bisher kaum ausgeschöpft ist. Die Vielfalt an ökologischen Systemen der weltweiten Landwirtschaft ist groß, weit größer als die Flä­chen, die nach den Kriterien der Bioanbauverbände zerti­fiziert und bewirtschaftet werden. Und die Produktivität hält jedem Vergleich stand, wenn man nicht nur Hektarerträge, sondern auch Gewinne an Bodenfruchtbarkeit, Wasserhalte­vermögen, Artenvielfalt, Pestizidfreiheit und Resilienz gegenüber Klimaextremen, also die gesamten Ökosystemleistun­gen, berücksichtigt.

Potenzial zur Ernährung der Welt

Eines der bedeutendsten agrarökologischen Systeme findet sich im Reisanbau. Es setzt auf Extensivierung und bringt dennoch mehr Ertrag hervor. Obwohl es ein extensives Sys­tem ist, erhielt es irreführender Weise den Namen „System of Rice Intensification“. Es verzichtet auf synthetischen Stickstoff und Pestizide, verbessert den Boden, verbraucht nur die Hälf­te des sonst üblichen Wassers und trägt zur Entlastung des Klimas bei, indem es die Nassphase des Reisanbaus, in der Methan entsteht, weitgehend ausfallen lässt. Sein Erfolg be­ruht auf der Erweiterung der Pflanzabstände der Reispflan­zen, die so mehr Wurzelraum erhalten und mehr Triebe bilden können. Auf diese Weise erhöht sich der Ertrag pro Hektar im Schnitt von zwei auf acht Tonnen (Uphoff, 2014). Mittlerweile haben rund fünf Millionen Bauern in über 50 Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika das System übernommen. In China und Indien wird es offiziell von den Behörden gefördert.

Megastädte, die sich ökologisch (selbst) versorgen

Eine besondere Herausforderung für die Zukunft stellen die schnell wachsenden Megastädte dar, wie sie in Afrika, Asien und Lateinamerika entstehen. Wie können sie versorgt wer­den? Südamerika, wo die Städtebildung am weitesten fortge­schritten ist, zeigt mögliche Wege. In der Stadt Rosario in Argentinien schuf die Stadtregierung ein Programm zur Un­terstützung landloser Landarbeiter, die aus dem Hinterland verdrängt wurden, und armer Städter. Sie sollten ihr eigenes Gemüse auf Brachland in der Stadt anbauen, um sich selbst zu versorgen. Die Initiative wurde unter dem Namen „Pro­ grama de Agricultura Urbana (PAU)“ bekannt. Sie führte zu einem Boom städtischer Landwirtschaft, aus dem neue lokale Märkte und Verarbeitungsbetriebe entstanden, die heute ihr Geld damit verdienen, dass sie organisch angebautes Obst und Gemüse, aber auch verarbeitete Produkte an die wohl­habendere Stadtbevölkerung verkaufen. In Brasilien stellte das Zero­Hunger­Programm die Kleinbauern in städtischen Zentren in den Mittelpunkt. Ziel war es, ökologische und da­mit preisgünstige Produkte zu fördern und mit ihnen die ärmere Bevölkerung der Großstädte zu versorgen. Heute wirtschaften 4,3 Millionen brasilianische Kleinbauern nach ökologischen Prinzipien in den großen Städten des Lan­ des und in ihrem Umkreis.

Auf Kuba zeigt das Beispiel Ha­vannas, wie eine Stadt ihre Selbstversorgung steigern kann. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste Kuba eine neue Basis für die eigene Ernährung entwickeln. So wur­den die Brachflächen und Grünanlagen der Städte zu Gärten mit ökologischer Bewirtschaftung, die bei Gemüse mehr als die Hälfte des Bedarfs decken (Koont, 2011). Die hier vorgestellten Beispiele bilden noch keine abgesicherte Strategie zur Versorgung der zukünftigen Megastädte. Sie zeigen jedoch, dass die Zivilgesellschaft weltweit schon heute über eine große Spannbreite erfolgreicher ökologischer Syste­me verfügt. Sie bilden die kritische Masse, mit der ein System­wechsel in ökologischer Vielfalt gestaltet werden kann. Dies auch, weil eine intensivierte Bioforschung und -­praxis noch erhebliche Steigerungen der Erträge erwarten lassen – und das nicht nur in den Entwicklungsländern.

Woran eine zügige Umsetzung zu mehr Bio scheitert

In den Industrieländern und so auch in Deutschland ist die ökologische Agrarforschung ein Stiefkind der Forschungs­förderung. Hier liegt ihr Anteil am gesamten landwirtschaft­lichen Forschungsetat des Bundes bei sechs Prozent. Das wa­ren 2017 rund 278 Millionen Euro. Der geringe Stellenwert des Ökolandbaus im Bereich Forschung spiegelt das geringe politische Interesse wider. Das wird sich grundlegend ändern müssen. Die Zuweisung staatlicher Forschungsmittel muss drastisch steigen, bis 2030 mindestens auf 20 Prozent, um ei­ner flächendeckenden Biolandwirtschaft das notwendige Fundament zu geben.

Einer zügigen und flächendeckenden Ökologisierung steht in Deutschland ein Leitbild der Ernährungspolitik entgegen, das in den 1950er­Jahren geprägt wurde und weiter Bestand hat. Es ist das Leitbild der industrialisierten Landwirtschaft, das im Nachkriegsdeutschland entwickelt wurde. Es sollte die Prinzipien der Industrie auf die Landwirtschaft übertragen. Durch den Einsatz von Technik, Chemie, Hochleistungszucht und Spezialisierung sollte die Produktivität massiv erhöht werden; zum einen, um den Hunger der Nachkriegsjahre zu besiegen, zum anderen, um in der Landwirtschaft Arbeits­kräfte für die boomende Industrie freizusetzen. Der Erfolg dieser Strategie, die aus einem engen Zusammenspiel der landwirtschaftlichen Verbände, der vor­ und nachgelagerten Industrien, der Politik und der Verwaltung bestand, trug zu dem bei, was als deutsches „Wirtschaftswunder“ in die Ge­schichte einging.

Diese agroindustrielle Koalition besteht wei­ter, verfolgt weiterhin das Ziel einer umfassenden Indus­trialisierung und zieht gegen eine Ökologisierung der Landwirtschaft in Deutschland zu Felde. Sie schafft bis heute über die europäische Agrarpolitik immer größere Mono­strukturen auf den Äckern und in den Ställen. Ihr Einfluss ist besonders den Konzernen zuzuschreiben, die zu immer grö­ßeren wirtschaftlichen Machtkomplexen heranwuchsen und mittlerweile globale Dimensionen erreicht haben.
Diese ökonomische Machtballung fördert den politischen Einfluss einer vielfältigen Lobby, die das Konzept der inten­siven Landwirtschaft, des globalen Handels und der indus­triellen Verarbeitung von Lebensmitteln in der ganzen EU sichert und verteidigt.

Zu den stabilisierenden Säulen des Systems gehört auch der Deutsche Bauernverband, dessen Vertreter in den Aufsichtsräten der Agrarkonzerne sitzen und in Deutschland bis in die Ausschüsse des Bundestags vordrin­gen konnten. Ein weiteres Hindernis für die Abkehr vom dominierenden Leitbild sind die Bauern selbst und ihre Investitionen. Getrie­ben von Verbandspolitikern, die die globalen Milch-­ und Fleischmärkte als Heilsversprechen ausgaben, wurde in Ge­bäude und Maschinen investiert. Investitionen in Milliarden­höhe, die über Jahre zurückgezahlt werden müssen und nun den Entschluss erschweren oder auch verhindern, neue Wege einzuschlagen.

Wie die Vision Realität werden kann

Existiert vor dem Hintergrund der Macht­ und Interessen­ballung für ein industrielles Agrarsystem überhaupt die Chance für einen Wechsel hin zu einer Ernährung, die öko­logisch und regional orientiert ist? Die grundlegende Öko­logisierung des Agrar­ und Ernährungssystems kann in Eu­ropa nur ein gesamteuropäisches Projekt sein. Da die Politik sich kaum bewegt, wird die Zivilgesellschaft den notwendigen Systemwechsel einleiten müssen. Die Weichen dafür müssen in Brüssel gestellt werden. Aber die Impulse dafür werden von den europäischen Gemeinschaftsstaaten und von ihren Bür­gern gesetzt. Die Energiewende in Deutschland ist ein Beweis dafür, dass eine solche Strategie „von unten“ Erfolg haben kann. Sie zeigt, welche Hebel dafür in Bewegung gesetzt werden müssen: Beispiel geben, Vorbilder schaffen, Märkte entwickeln, politi­sche Koalitionen schmieden, die öffentliche Förderung neu justieren.

Im Zentrum muss eine neue Weichenstellung in der europä­ischen Agrar-­ und Handelspolitik stehen. Ihr Ziel: Kein Euro darf in Zukunft ohne Prüfung seiner ökologischen Wirkung ausgegeben, kein Vertrag ohne Blick auf die Folgen für die Ernährung der Menschen geschlossen werden. Unter den politischen Maßnahmen, mit denen die Europäische Union die Transformation des Ernährungssystems beginnen muss, steht die Umwidmung der Flächenprämie an vorderster Stelle. Flankierend sollte die Zivilgesellschaft die Diskussion über eine ökologische Transformation des Agrarsystems fördern, indem sie Fragen stellt:

  • nach der Sicherheit von Geldanlagen der Bürger in Fonds und Versicherungen, die ihre Gewinne aus dem Geschäft der Intensivlandwirtschaft ziehen,
  • nach der Praxis der Verpachtung von kirchlichem und kommunalem Land – Kirchen und Kommunen als große Landbesitzer müssen bei der Agrarwende vorangehen,
  • nach der öffentlichen Förderung von Bürgerinitiativen, die in deutschen Städten regionale Ernährungskonzepte entwickeln,
  • nach einem Verbot von Antibiotika in der Tierhaltung, wenn sie Multiresistenzen und damit lebensgefährliche Erkrankungen begünstigen,
  • nach einem Verbot von Pestiziden, die als Hauptursache des massiven Insektensterbens identifiziert und dennoch nicht aus dem Verkehr gezogen werden,
  • und schließlich ob Bauern nicht für Fehlinvestitionen in die industrielle Landwirtschaft entschädigt werden sollten, so wie die Kohle­ und Atomindustrie in der Energiewende.

Nur die Entlastung von diesen Verbindlichkeiten wird es den bäuerlichen Betrieben ermöglichen, dem Zwang zum „Weiter so“ zu entkommen und einen ökologischen Neubeginn zu wagen. Ziel all dieser Aktionen muss es sein, ein politisches Klima zu schaffen, das Ökolandbau bis zur Mitte des Jahrhunderts zum Goldstandard der Landwirtschaft erhebt, wie es der Rat für Nachhaltige Entwicklung schon 2011 empfahl. Die „Vision 100 % Bio“ – so kann sie gelingen.

Zum Weiterlesen: Bommert, W., M. Linz (2018): Landwirtschaft am Scheideweg. Nur eine ökologische Landwirtschaft kann zehn Milliarden Menschen ernähren. Eine Streitschrift. Abrufbar unter kurzlink.de/bommert_linz

IWELandwirtschaft am Scheideweg
Interview zum Weltbodentag: Wie geht die Kirche mit ihrem Land um?

Interview zum Weltbodentag: Wie geht die Kirche mit ihrem Land um?

Bei der Durchsetzung neuer Leitlinien für die Verpachtung kircheneigenen Landes ist langer Atem gefragt.

von Karin Vorländer

Schätzungsweise drei bis vier Prozent der derzeit 16,5 Millionen Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche gehören den beiden großen Kirchen. Gemeinsam sind sie damit der größte Grundbesitzer Deutschlands. Wie kircheneigenes Land bewirtschaftet wird, ob ökologisch nachhaltig oder unter dem Vorzeichen industrieller oder konventioneller Landwirtschaft, das fällt im Zeichen abnehmender Artenvielfalt und bedrohter Bodenfruchtbarkeit durchaus ins Gewicht.

Auf dem Kirchentag 2019 hat die Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW) deshalb eine Handreichung vorgestellt, in der sie in Zusammenarbeit mit dem NABU Projekt “Fairpachten“ neue Leitlinien zur Verpachtung von Kirchenland vorstellt.

Die Handreichung zielt darauf, dass deutlich mehr Kirchenland nach ökologischen Kriterien verpachtet werden soll. Darüber hinaus will die EKvW familiengeführte bäuerliche Betriebe stärken und gibt den Gemeinden, die kircheneigenes Land besitzen, Hinweise zur neuen Gestaltung des Pachtzinses.

Aus Anlass des Weltbodentages am 5. Dezember hat Karin Vorländer bei Dirk Hillerkus, dem Mitverfasser der Handreichung, nachgefragt, welche Chancen und Probleme es beim Versuch gibt, Kirchenland von den Pächtern künftig ökologisch nachhaltiger bewirtschaften zu lassen.

Gibt es verlässliche Zahlen dazu, wie viel Land in kirchlichem Besitz ist?

Dirk Hillerkus: Das ist eine schwierige Frage. Es gibt die Zahl, dass in der EKD etwa 325.000 Hektar landwirtschaftliche Fläche in den 20 Gliedkirchen der EKD verpachtet sind. Das gestaltet sich in den Gliedkirchen sehr unterschiedlich. In Mitteldeutschland etwa wird das Pachtland zentral erfasst und verwaltet. In der Evangelischen Kirche in Westfalen, in der Evangelischen Kirche im Rheinland und in Hessen-Nassau dagegen sind die Kirchengemeinden Eigentümer des Pachtlandes. Da liegt auf Kirchenkreis- oder landeskirchlicher Ebene keine Gesamtzahl vor. Wir sind dabei, eine Übersicht für die gesamte EKvW zu erstellen und die Zahlen zu erheben.

Ist das kirchliche Pachtland ein Faktor in der Landwirtschaft?

Hillerkus: Ja, zumindest in bestimmten Regionen. Wenn Sie etwa ans Münsterland, an Ost- und Südwestfalen oder an die Forstwirtschaft im Wittgensteiner Land denken, da gibt es beachtliche Pacht-Flächen in Kirchenbesitz. Sogar ein eher städtischer Kirchenkreis wie Unna hat 200 Hektar Land. In Unna zum Beispiel sind das Flächen, auf denen auch eine intensive Landwirtschaft, Kartoffel- und Gemüseanbau stattfindet.

Wenn diese Flächen wegfielen oder wenn die Kirchen strengere ökologische Kriterien für die Verpachtung durchsetzte, wäre das spürbar?

Hillerkus: Das wäre für einige Pächter spürbar. Deshalb haben wir unsere Handreichung so gestaltet, dass wir sagen: „Das sind Empfehlungen“. Die Kirchengemeinden und ihre Presbyterien entscheiden ja eigenständig. Nun ist es so, dass sich die Zusammensetzung der Presbyterien auf dem Land stark verändert hat und weniger Landwirte als früher Mitglied sind. Das hat verschiedene Gründe. Einmal ist die Zahl der Landwirte generell weniger geworden. Heute bewirtschaften zwei Landwirte die Fläche, die früher zehn Landwirte bewirtschaftet haben. Die Pächter sind Mitglieder der evangelischen oder katholischen Kirche. Aufgrund der teilweise höheren Arbeitsbelastung ist ihre verfügbare Zeit für Ehrenämter sicherlich begrenzter als früher. Von daher sind in vielen Presbyterien keine Landwirte mehr vertreten und die anderen Mitglieder sind mit der Materie nicht mehr so vertraut. Das war auch einer der Gründe, warum wir die Handreichung gemacht haben, so dass auch die Mitglieder, die fachlich nicht so bewandert sind, sich in die Materie einarbeiten können und anhand von Beispielen sagen können: „So sieht angewandter Naturschutz in der Landwirtschaft aus, so könnte man das tun.“

Wo liegt das Neue in der Handreichung und wo liegt die Herausforderung die Empfehlungen umzusetzen?

Hillerkus: Das Neue liegt sicherlich darin, dass die Handreichung erstens mit der NABU Stiftung Nationales Naturerbe, bzw. mit dem Projekt „Fairpachten“ zusammen entwickelt wurde. Das Projekt „Fairpachten“ ist vor einem Jahr neu gestartet worden. In dem Projekt sind auch Berater tätig, die Verpächter, das wären in dem Fall die Kirchengemeinden direkt vor Ort, beraten. Das ganz Wichtige dabei ist, dass wir nicht nur ganz konkret die Nachhaltigkeitskriterien Ökologie, Ökonomie und Soziales aufgenommen haben, die wir auch schon in der ersten Handreichung hatten, sondern dass wir in der aktuellen Handreichung auch ganz konkret Fördermöglichkeiten und Naturschutzmaßnahmen aufführen. Von 30 möglichen Maßnahmen, die das Fairpachten Projekt vorschlägt, haben wir zehn ausgesucht und in die Handreichung aufgenommen. Wir sagen: „Leute, das sind jetzt mal Beispiele und wir würden dazu raten, dass ein oder zwei dieser Maßnahmen auf dem Kirchenland angewandt werden.“ Wir haben darauf geachtet, dass das Maßnahmen sind, die vom Land gefördert werden und finanziell attraktiv sind.

Warum schreibt sich die Kirche das Thema Böden und nachhaltige Landwirtschaft auf die Fahnen? Wie hängt das mit dem Verständnis des Auftrages von evangelischer Kirche zusammen?

Hillerkus: Unser Auftrag ist ja Bewahrung der Schöpfung, Frieden und Gerechtigkeit. Das sind nun mal die drei wichtigen Säulen. Schon im konziliaren Prozess in den achtziger Jahren haben sich die Kirchen damit beschäftigt und über Nachhaltigkeit geredet. Und gerade jetzt sehen wir, dadurch dass das Thema Biodiversität und Verschwinden von Arten immer mehr zum Thema wird, wie wichtig die Erhaltung des Bodens, der Bodenfruchtbarkeit und der Erhaltung und Förderung der Artenvielfalt ist. Einmal zur Nahrungsmittelproduktion, aber auch insgesamt zur Erhaltung funktionierender Ökosysteme, die wir letztendlich ja alle zum Leben brauchen.

Welche Landwirtschaft entspräche denn den anspruchsvollen Kriterien, die die Kirche formuliert hat?

Hillerkus: Wir sagen, dass wir familiengeführte Landwirtschaftsbetriebe möchten, die nachhaltig wirtschaften. Es wäre toll, wenn es ein Biolandbetrieb ist, aber, wenn jemand artgerechte Tierhaltung hat, und zwei Großvieheinheiten pro Hektar hält (zwei Kühe), nicht unbedingt Mais nach Mais anbaut, was z.B. Bestandteil eines Pachtvertrages sein kann, dann sind das schon mal positive Aspekte, die wir aufnehmen sollten.

Macht sich die Kirche bei den Landwirtschaftsverbänden mit ihren Forderungen und Kriterien Freunde?

Hillerkus: Nicht immer. Das kommt auf den Verband an. Wir sind in regelmäßigem Dialog mit dem Westfälisch-Lippischen Landwirtschaftsverband (WLV) in Münster, 80 Prozent der Landwirte sind da Mitglied. Da wird eine Landwirtschaftspolitik vertreten, die das Motto „Wachsen oder Weichen“ zumindest nicht in Frage stellt.

Wo gibt es Dissens zwischen Landwirten und ihren Verbänden und den Empfehlungen der Kirche?

Hillerkus: Wenn wir auf Arbeitsebene Gespräche in Münster haben, dann wird immer wieder gesagt: „Wir müssen doch die Welt ernähren.“ Ich habe selbst 16 Jahre beim kirchlichen Hilfswerk „Brot für die Welt“ in Äthiopien gearbeitet. Ich entgegne dann: „Liebe Leute. Wir müssen dort die Bauern fördern, ihnen dort Wissen geben, ihnen dort Zugang zu Ressourcen und Krediten verschaffen, aber wir müssen nicht hier produzieren, und es dann dorthin zu verschiffen. Wir müssen nicht von hier aus die Welt ernähren.“

Das ist einer der großen Punkte, wo es eine große Diskrepanz zwischen der Kirche und den Bauernverbänden gibt. „Brot für die Welt“ wird kritisch gesehen. Das hat auch mit der Mentalität der hiesigen Landwirte zu tun. Man ist sehr technisch orientiert. Je größer die Maschine, umso besser. Je mehr Ertrag pro Hektar, umso besser. Da werden andere Faktoren wie Zugang zu Land oder die politische Situation ziemlich ausgeblendet. Kritisch geguckt wird auch, wenn wir vorschlagen, dass die Landwirtschaft ihren Fokus auf den EU Binnenmarkt legen sollte.

Wo ganz kritisch reagiert wird, ist, wenn wir auf alternativ/biologisch wirtschaftende Betriebe hinweisen, etwa bei der Umstellung der Schweinehaltung. „Na ja komm, die paar Stück, die der dann verkaufen kann“, heißt es dann. Man tut sich schwer damit anzuerkennen, dass man von der Masse weg mehr auf Qualität setzen kann und dass man Regionalvermarktung aufbauen kann. Da sind die meisten konventionell wirtschaftenden Landwirte schwer zugänglich. Das ist noch ein dickes Brett. Wir haben natürlich auch Kontakt zu Arbeitsgemeinschaft bäuerlicher Landwirtschaft (AbL) und den Bio-Anbau-Verbänden. Wir sind mit allen im Gespräch.

Haben die Kriterien aus der Handreichung für nachhaltige Bewirtschaftung von kirchlichem Pachtland schon Eingang in Musterverträge gefunden?

Hillerkus: Nein, das ist noch nicht in den Musterverträgen. Es gibt einen Mustervertrag von der EKvW, der sich nach dem EKD Mustervertrag richtet. Die Kriterien ordnungsgemäße Landbewirtschaftung, kein Ausbringen von Klärschlamm und kein Anbau genveränderter Pflanzen sind fester Bestandteil des EKvW-Musterpachtvertrages. Das andere wären dann Anhänge, die in den Kirchenkreisen oder Kirchengemeinden angefügt werden können. Das hängt natürlich auch von den jeweiligen Standorten ab. Wenn es keine Biogasanlagen in der Region gibt, muss im Pachtvertrag nicht stehen, es darf nicht Mais nach Mais angebaut werden. Sollte es eine Region geben, wo das sehr stark ist, dann wäre das ein Kriterium.

Mit neuen Pachtbedingungen handeln sich Presbyterien vermutlich auch Ärger ein.

Hillerkus: Pachtland hat in den Kirchengemeinden jahrelang keine große Rolle gespielt. Das heißt, Pachtverträge wurden nicht erneuert. Die laufen teilweise seit 30 Jahren. Es wurde auch der Pachtzins nicht erhöht. Landwirte zahlen immer noch das, was sie vor langer Zeit bezahlt haben. Das mag in manchen abgelegenen Gegenden ja okay sein, aber wenn sie an Stadtrandgebiete und größere Betriebe denken, da sind die Pachtbeträge mittlerweile 5- bis 6-fach so hoch. Da sind zwei Komponenten, die diskutiert werden müssen: Einmal der Pachtzins und zum anderen die ökologischen, ökonomischen und sozialen Verpachtungskriterien. Wobei wir sagen, die ökologischen Kriterien sollten stärker wiegen als der maximale monetäre Ertrag, den man pro Hektar Pachtland erzielen kann.

Wenn aber ein Landwirt sagt, „ich würde gerne auf Bio umstellen, kriege aber in der Übergangszeit keine Biopreise“, dann kann man darüber reden. Der Pachtpreis muss nicht an die Decke des Höchstmöglichen gehen. Auch wenn ein Betrieb durch eine Erhöhung in seiner Existenz gefährdet wäre, dann müsste man sagen, das wollen wir nicht. Es gibt eben auch das soziale Kriterium. Wir möchten, dass Landwirte Teil des Dorfes bleiben. Wir möchten, dass Betriebe familiengeführt bleiben und keine Kapitalgesellschaft werden.

Gibt es ein Beispiel für eine Nichtverlängerung eines Pachtvertrages aufgrund der neuen Kriterien?

Hillerkus: Mir ist es nicht bekannt, weil wir ja erst anfangen. Es gibt einen Kirchenkreis, der alle Pachtverträge erneuert hat. Das war vor der Veröffentlichung der Handreichung. Da ging es hauptsächlich um den Pachtpreis. Und bei einer Kirchengemeinde am Stadtrand von Unna mit 22 Pächtern wurden vor einiger Zeit alle Pachtverträge erneuert. Dabei war wichtig, dass der sozialen Frieden und das gute Verhältnis zwischen Bauern und Kirche erhalten bleibt.

Und womit ist zu rechnen, wenn die Kirche ernst macht mit den strengeren Kriterien der Handreichung?

Hillerkus: Man darf das Ganze natürlich auch nicht außerhalb der Agrarpolitik sehen. Das ist das große Korsett, in dem wir alle stecken. Auch Biolandbetriebe stehen nicht gerade außerhalb des Systems und des ökonomischen Drucks. Solange die Agrarpolitik auf Wachsen oder Weichen setzt und Betriebe ihre Kostensteigerung über Produktionssteigerung auffangen müssen und die EU auf Exporte setzt, wo die Betriebe von den Produktionskosten her oft nicht konkurrieren können, werden wir in diesem Dilemma bleiben.

Wir brauchen eine Veränderung, dass wir sagen: Öffentliche Gelder für öffentliche Güter. Landwirte erhalten Geld von der öffentlichen Hand, um öffentliche Güter wie gesunde Nahrungsmittel, Artenvielfalt, Boden, Luft und Wasser zu produzieren oder zu erhalten, die hohen Umweltnormen entsprechenWir müssen die Qualität landwirtschaftlicher Produkte wieder mehr schätzen lernen. Das hat natürlich mit einer Ernährungsveränderung zu tun und auch mit der Bereitschaft der Verbraucher, für bessere Qualität mehr zu zahlen. Der Landwirt schiebt die Schuld gerne auf die Verbraucher, die oft nicht mehr bezahlen wollen und bleibt reserviert. Ich sage dann schon mal: „Ihr könnt euch überlegen, entweder wollt ihr einen Schnitzelpreis pro Kilo von 1,99 Euro und einen Wasserpreis von 15 Euro pro m3. Oder ihr zahlt 4 Euro für das Kilo und das Wasser ist nicht so teuer und enthält weniger Nitrat.“ Anders ausgedrückt: Überlegt euch, wo ihr hinwollt. Mit allen Umweltfolgen.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo die neue Handreichung schon etwas zum Positiven verändert hat?

Hillerkus: Wenn es um die Umweltmaßnahmen geht, ist es noch zu früh. Die Handreichung haben wir ja erst zum Kirchentag veröffentlicht. Wir installieren gerade erste Arbeitsgruppen und sind dabei, gemeinsame Auswahlkriterien für die Verpachtung zu finden und dann mit den Pächtern einen Dialog zu führen.

Wie soll oder kann die Umsetzung der Empfehlungen und daraus erwachsener neuer Pachtverträge überprüft werden?

Hillerkus: Wir setzen mehr auf Kommunikation und Dialog als auf Kontrolle. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ehrenamtliche Kirchenvorstandsmitglieder, die oft schwierig zu finden sind, die Zeit haben, alle Flächen jedes Jahr zu begehen.

IWEInterview zum Weltbodentag: Wie geht die Kirche mit ihrem Land um?
100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft

100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft

Seit Wochen protestieren Bäuerinnen und Bauern gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung und für mehr gesellschaftliche Wertschätzung. Angesichts der Proteste hat Angela Merkel heute Vertreter der Agrarbranche zum Agrargipfel ins Kanzleramt eingeladen, um mit ihnen über die Zukunft der Landwirtschaft zu diskutieren.

100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft

Von Wilfried Bommert und Manfred Linz

Die Wirtschaftsberatungsgesellschaft Boston Consulting Group hat sich die deutsche Landwirtschaft vorgenommen. Unter dem Titel: „Die Zukunft der deutschen Landwirtschaft nachhaltig sichern – Denkanstöße und Szenarien für ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit“ greift sie in die gegenwärtig so lebhafte Diskussion um den Kurs der Agrarpolitik in Deutschland ein. Und bescheinigt der gegenwärtigen Agrarpolitik die skandalöse Missachtung aller Prinzipen der Ökonomie. Nach ihrer Rechnung stehen Kosten von 100 Milliarden Euro nur einem landwirtschaftlichen Produktionswert von 20 Milliarden Euro gegenüber. Sie rät zu drastischen Reformen, und scheut sich nicht, auch mächtigen Interessen auf die Füße zu treten.

Das Besondere: Für Diagnose und Therapie wählt sie einen Ansatz, der ihr die Aufmerksamkeit vieler sichern kann, die mit einer ethischen oder zukunftsgefährdenden Argumentation nicht leicht zu erreichen sind. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt nämlich bei einer gesamtgesellschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnung, also beim Geld. Sie fragt, zu welchen Kosten die deutsche Landwirtschaft zwischen Boden- und Nordsee, Oder und Rhein gegenwärtig wirklich produziert, sie analysiert die wahren Kosten der intensiven Landwirtschaft. Dabei werden Positionen sichtbar, die in der Buchhaltung der Landwirte und in den Preisen für ihre Produkte bisher keine Geltung finden.

Verantwortlich dafür ist die Art, wie die intensive Landwirtschaft hierzulande betrieben wird. Ihre Kostenpositionen klopfen die Prüfer einzeln ab. Synthetischer Dünger und Pestizide schädigen Bodenleben und Grundwasser, großflächige Monokulturen lassen die Böden ein leichtes Opfer für Wind und Wasser werden und tragen den Humus ab. Diese Wirtschaftsweise hinterlässt verdeckte Kosten, die die Wirtschaftsprüfer der Boston Consulting auf 40 Milliarden Euro pro Jahr schätzen.

Ähnliches gilt für den massiven Verlust an Artenvielfalt, die Auswirkung der Intensivlandwirtschaft auf das Klima, den Wasserhaushalt, die Luftqualität und den Zustand von Kultur- und Erholungslandschaften. Auch hier entstehen verdeckte Kosten, die noch  einmal mit jährlich 50 Milliarden Euro zu Buche schlagen.

Rechnet man die Subventionen hinzu, die jedes Jahr aus den Brüsseler Töpfen und dem Bundeshaushalt für die Landwirtschaft ausgegeben werden, dann steigen die Kosten der deutschen Landwirtschaft auf 100 Milliarden Euro pro Jahr. Ihnen steht ein Produktionswert für Getreide, Kartoffeln, Milch und Fleisch von nur 20 Milliarden Euro gegenüber. Die bisher nicht eingerechneten Kosten der deutschen Landwirtschaft liegen also um den Faktor fünf höher als der Wert ihrer Waren – pro Kopf jährlich 1.200 Euro. Wirtschaftlich gesehen ist das eine Bankrotterklärung für die landwirtschaftlichen Unternehmen. Und nicht anders für die Politik  die diese Bilanz seit Jahrzehnten deckt.

Die Kur, die Boston Consulting als Wirtschaftsberatungsgesellschaft der Industrie der Landwirtschaft  vorschlägt, entspricht den Regeln jeder Unternehmensberatung: verdeckte Kosten aufdecken, Wirtschaftlichkeit durch Kostensenkung erhöhen. Konkret geht es um eine Minimierungsstrategie. Dabei zeigt sich, dass einzelne Maßnahmen nur geringe Entlastung bringen, wie die Tierhaltung an die Fläche binden, Zwischenfrüchte, Untersaaten, Leguminosen anbauen oder Brachland ruhen lassen. Auch der Verzicht auf Dünger und Agrarchemie bringt nicht mehr als 15 %  an Kostensenkung.  

Was wirklich hilft, sind grundsätzliche Weichenstellungen, radikale Veränderungen.  Die Berater halten vier Szenarien für bedenkenswert.

  • Die Landwirtschaft gibt ihre Exportambitionen auf und produziert nur noch für den deutschen Markt. Dies würde dazu führen, das die Zahl der Masttiere deutlich gesenkt werden könnte, die Umweltschäden durch Importfutter und Gülle ebenfalls. Fast die Hälfte des gegenwärtig in Deutschland erzeugten Fleisches wird für den Export produziert und verursacht allein rund 40 Prozent der versteckten Kosten der deutschen Landwirtschaft.  
  • Auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten sieht Boston Consulting Potential: Würde der Fleischkonsum entsprechend den Empfehlungen der internationalen EAT-Lancet-Kommission auf ein Viertel des heutigen Verbrauches sinken, könnten 25 Prozent der versteckten Kosten der Landwirtschaft aus der Welt geschafft werden.
  • Kann das Wegwerfen von Nahrungsmittel ganz ausgemerzt werden, sind noch einmal 15 Prozent an Einsparung zu erwarten.
  • Das größte Potential aber liegt in der Kombination der Varianten.  

Wenn Dünger und Pestizide stark vermindert würden, wenn die deutsche Landwirtschaft ihre Weltmarktambitionen aufgeben und  nur noch Fleisch für den Inlandverbrauch produzieren würde, wenn Lebensmittelverschwendung auf Null gebracht und die Kultur des Sonntagsbraten wieder Einzug halten dürfte, dann, so lautet das Urteil der Boston Consultants, könnten insgesamt 80 Prozent der bisher             versteckten Kosten in der deutschen Landwirtschaft vermieden werden.

20 Prozent blieben übrig als „unvermeidbarer“ Rest. Die entsprächen dann dem tatsächlichen Wert der Produktion. Und damit wäre die Mission der Berater beendet. Ein Erfolg wäre sie dennoch nicht. Zwar machen die vorgeschlagenen Operationen einen erheblichen Schritt hin auf mehr Ökologie. Gleichzeitig wird aber erkennbar, dass es sich dabei nur um eine Reparatur des derzeitigen Agrarsystems handelt. Eine grundlegende Wende zur Nachhaltigkeit wird nicht in den Blick genommen. Und so bleiben die Hauptnachteile des Systems für die Bauern auch bestehen. Sie liegen im dramatischen Preisdruck, den das herrschende System immer wieder erzeugt. Und der entsteht aus den Marktstrukturen, denen die Bauern ausgeliefert sind: Märkte für gesichtslose Massenware; Kleinproduzent gegen Monopole in Verarbeitung und Handel.

Solange es nicht gelingt den Bauern und ihren Produkten wieder einen Wert zu geben, der auf Wertschätzung beruht, werden sie keine besseren Preise erwarten können. Wertschätzung für sie als Menschen, für ihre Arbeit und damit auch für das, was sie mit Säen und Ernten. Diese Wertschätzung lässt sich nicht durch Kostenminimierung schaffen. Sie gedeiht vor allem dort, wo Nähe entstehen kann, an runden Tischen etwa, an denen Bauern und Bürger darüber nachdenken, wie die Region und ihre Lebensmittel wieder in Wert gesetzt werden können und sie so entstehen, das die Kosten nicht versteckt werden müssen, sondern vom Preis abgedeckt werden. Das wären die wahren Preise. Die liegen dann höher, als das was heute in den Supermärkten angepriesen wird, aber enthalten das, was den konventionellen Produkten heute fehlt: Enkeltauglichkeit.

Solche runden Tische sind keine reine Utopie; in mehr als 20 Städten der Republik arbeiten sie schon, eine große Koalition der Zivilgesellschaft auf den Weg zu neuen wertschätzenden Ernährungskonzepten. Unter den Koordinaten: regional, ökologisch und fair beginnt dort eine ökologische Transformation. Nur sie kann die zwingend notwendige Resilienz erreichen, die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit unseres Ernährungssystems, ohne die die Herausforderungen der Klimakrise nicht zu meistern sind.

IWE100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft
Buchkritik: Das Sterben der Anderen – Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können

Buchkritik: Das Sterben der Anderen – Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können

Eine Buchbesprechung von IWE-Vorstand Wilfried Bommert.

Tanja Busse ist eine erfahrene Journalistin mit besonderer Expertise in Bereich nachhaltiger Landwirtschaft. Dies zeichnet auch ihr jüngstes Werk „Das Sterben der Anderen – Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können“ über das Ende der Arten aus, in dem sie das Zerbrechen ökologischer Ketten beschreibt und die dahinter stehende ökonomische Gier, die das System der Massenvernichtung betreibt.

Das Sterben der anderen von Tanja Busse

Sie erzählt uns, was den Untergang der Arten in den letzten Jahrzehnten beschleunigt hat und dass er weit über das Verschwinden von drei Viertel aller Insekten in Feld und Flur hinausgeht. Er geht an die Substanz des Ökosystems, das auch unsere Existenz überhaupt erst möglich macht. Auch wenn es früher schon Artensterben gegeben hat, weil sich die Welt veränderte, dies ist der größte Aderlass in der Erdgeschichte seit dem Aussterben der Dinosaurier und er schreitet schneller fort als viele ahnen.

Tanja Busse nimmt uns mit zu den Tatorten, den Heiden und Mooren, den Magerasen und Feuchtgebieten. Wir finden uns wieder auf dem Schlachtfeld des Artensterbens der industriellen Landwirtschaft, die mit ihren Monokulturen, ihrem Einsatz an Chemie, ihrer Strategie des Wachsens und Weichens das Ende der anderen, ob Wiedehopf, Feldlärche oder Feldhase, vorantreibt. Aber wir hören auch von Bauern, die andere Wege einschlagen. Die wieder mit der Natur wirtschaften, die Vielfalt als Sicherheit in unsicheren Zeiten des Klimawandels erleben, die von ihrer Scholle wieder leben können und dabei ein wesentliches Merkmal bäuerliche Kultur hochhalten: in Generationen zu denken.

Aber was sollen wir nun tun? Anders leben? Erkennen, dass wir Teil eines großen Ganzen sind, in das wir uns wieder einordnen müssten, wenn wir denn überleben wollen? Aber wie? Im eigenen Garten, im Supermarkt, auf der Autobahn? Indem wir unsere Politiker auffordern, die Saat einer ökologischen Agrarpolitik in Berlin und Brüssel endlich zu säen. All das wird nicht reichen, um das große Schwinden aufzuhalten. Tanja Busse schlägt vor, sozusagen als letztes Mittel, als Aufschrei der anderen, ein öffentliches Tribunal der aussterbenden Tiere einzurichten. Einen großen Prozess, in dem die Feldheuschrecke, der Segelfalter, das Rebhuhn, der Orang Utan ihr Überlebensrecht vor Gericht einklagen.

Tanja Busse erzählt packend, argumentiert schlagkräftig und sachkundig. In jedem Fall ist ihr Buch ein Gewinn für die dringend notwendige Debatte über die Erosion unseres Lebensraums.

„Das Sterben der Anderen – Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können“ von Tanja Busse, Erschienen August 2019. Paperback, Klappenbroschur, 416 Seiten, 13,5 x 20,6 cm. ISBN: 978-3-89667-592-7

IWEBuchkritik: Das Sterben der Anderen – Wie wir die biologische Vielfalt noch retten können
Vorreiter: Sikkim – ein indischer Bundesstaat auf der ökologischen Überholspur

Vorreiter: Sikkim – ein indischer Bundesstaat auf der ökologischen Überholspur

Ein Beitrag von IWE-Mitglied Alexandra Buley-Kandzi. In der Rubrik “Vorreiter” sammeln wir Beispiele von Pionieren der Ökologischen Agrarwende.

Foto: Bernward Geyer
Foto: Bernward Geyer

„Wir haben einstimmig beschlossen, dass in Sikkim nur noch ökologische Landwirtschaft betrieben werden darf.“ Dies verkündete 2003 Shri Pawan Chamling, der Ministerpräsident des zweitkleinsten Bundesstaates von Indien, und leitete eine konsequente Transformation der Landwirtschaft ein. Es war eine historische und damals weltweit einzigartige Entscheidung mit dem Ziel, einen umweltfreundlichen Staat zu etablieren, der gut für das Leben und die Gesundheit aller ist.

Die Voraussetzungen für diesen großen Schritt schienen günstig: Der Boden in Sikkim ist verhältnismäßig nährstoffreich. Die Landwirte benötigten dadurch ohnehin nur relativ geringe Mengen an synthetisch-chemischem Dünger. Außerdem waren viele Methoden der traditionellen Landwirtschaft noch bekannt. Trotzdem galt es, die rund 65.000 Bauern von dem gemeinsamen Weg zu überzeugen und sie durch Schulungen mitzunehmen.

Zuallererst ging es bei der Umstellung darum, Kunstdünger und synthetische Pestizide aus dem Land zu verbannen. Um die Bauern unabhängig von den zugekauften Düngern zu machen, investierte die Regierung in tausende von Kompostanlagen. Schließlich ist Kompost zusammen mit wohl überlegten Fruchtfolgen und Mischkultur-Anbau die Grundlage für eine robuste Bodengesundheit und eine nachhaltige Bodenfruchtbarkeit, d.h. sie bilden den Kern des erfolgreichen Bioanbaus. Im staatlichen Forschungszentrum für Bio-Landbau wird hieran geforscht und das Wissen rund um die traditionelle Landwirtschaft mit den Erkenntnissen aus der modernen Forschung verbunden. Es gibt ein umfangreiches Schulungsangebot für die Bauern.

Seit Ende 2015 ist Sikkim auf 100% Bioanbau umgestellt und alle landwirtschaftlichen Flächen sind auch entsprechend zertifiziert. Die Vielfalt an produzierten Feldfrüchten ist groß. Tee und Kardamom werden exportiert. Auch wenn es hier und da durchaus noch Lern- und Entwicklungsbedarf gibt, stehen die BäuerInnen und BürgerInnen in Sikkim hinter dem Projekt ihres Ministerpräsidenten Pawan Chamling und der ökologischen Landwirtschaft. Die Erfahrungen zeigen, dass der Bio-Anbau den Boden und die wertvolle Fauna und Flora schützt, was sehr wichtig ist, denn Sikkim ist ein Biodiversitäts-Hotspot. Deshalb steht auch ein Drittel des Landes unter Naturschutz. Durch den Verzicht auf Kunstdünger leistet Sikkim auch einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz. Für die Menschen dort ein durchaus bedeutsamer Nebeneffekt, denn der Himalaya und sein Öko-System leiden bereits spürbar unter dem Klimawandel.

2018 erhielt Sikkim für seine Bio-Initiative den Future Policy Award – auch als Policy Oscar bekannt -, den die FAO zusammen mit der IFOAM und dem World Future Council verleiht. Eine große Anerkennung, die auch dazu beiträgt, dass das visionäre und mutige Beispiel immer mehr Nachahmer findet. Inzwischen sind drei weitere indische Staaten dabei, ihre Landwirtschaft zu 100% auf Bio umzustellen u.a. Uttarakhand mit rund 1,7 Mio. Bauern, das ebenfalls Himalaya- Anreiner ist.

Sikkim ist ein inspirierendes und motivierendes Beispiel für die Welt. Und mit jeder Umstellung kommt die Welt der Vision Pawan Chamlings näher, dass es spätestens 2050 weltweit keine Pestizide mehr in der Landwirtschaft gibt. Sikkim zeigt, dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen.

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Vorreiter: Liechtenstein – Klein, aber Bio-Weltspitze

Vorreiter: Liechtenstein – Klein, aber Bio-Weltspitze

Ein Beitrag von IWE-Mitglied Alexandra Buley-Kandzi. In der Rubrik „Vorreiter“ sammeln wir Beispiele von Pionieren der Ökologischen Agrarwende.

Flächenmäßig zählt Liechtenstein zu den kleinsten Staaten der Welt. Aber wenn es um den Öko-Anbau geht, hängt das kleine Alpenland alle anderen Staaten auf der Erde ab: 39,7% (IFOAM 2019) der rund 3500 Hektar landwirtschaftlichen Flächen werden hier nach Bio-Richtlinien bewirtschaftet.

Damit setzt Liechtenstein Maßstäbe und ist weltweit Leuchtturm in Sachen Bio. Dies ist umso beachtlicher, wenn man bedenkt, dass die Geschichte der Bio-Landbau-Bewegung in dem kleinen Fürstentum eine sehr kurze ist. Erst in den 1990er kam sie dank einer Privatinitiative und Förderungen aus einer Stiftung in Gang und nahm dann aber rasch Fahrt auf. Seit 2008 ist auch der agrarpolitische Rahmen so gesteckt, dass die Bio-Bauern gute Bedingungen vorfinden. Sie arbeiten nach den Richtlinien der Bio-Suisse und damit nach den strengsten Bio-Vorgaben überhaupt.

„Doch gerade die hohen Standards sind ein wichtiger Faktor für den Erfolg der ökologischen Bewegung“, sagt Dr. Florian Bernardi, der seit 2010 für die Bioberatung Liechtenstein tätig ist. Die Verbraucher hier und in der benachbarten Schweiz, die die Hauptabnehmer der Bio-Waren sind, wissen die Qualität zu schätzen. Dabei legen sie besonderen Wert auf die hohen Tierhaltungsstandards. Gleichzeitig ist das Vertrauen in die Produkte hoch, schließlich ist die Rückverfolgbarkeit leichter: Die Wege in Liechtenstein selbst sind kurz und damit auch die Beziehungen zwischen Landwirten und Verbrauchern enger und direkter. Ein Segen für beide Seiten. Die Nachfrage nach Bio-Produkten steigt. Im gemeinsamen Wirtschaftsraum Schweiz/Liechtenstein werden im Durchschnitt 288 Euro pro Kopf und Jahr für ökologisch erzeugte Lebensmittel ausgegeben – so viel wie sonst nirgends. „Trotzdem ist beim Konsum- und Kaufverhalten noch Luft nach oben“, meint der Agrarwissenschaftler Bernardi.

„Entscheidend für die schnelle positive Entwicklung und das anhaltend hohe Niveau der Produktion ist jedoch auch der systematische Aufbau des Biolandbaus und die gute Beratungsstruktur“, so Bernardi. Hierbei sind die übergreifenden Dienstleistungen z.B. bei Marketing und Management genauso wichtig wie die individuelle Beratung jedes einzelnen Landwirts. „So können proaktiv Projekte auf den Weg gebracht werden. Dies ist bei uns die Schlüsselfunktion für die Weiterentwicklung“, beschreibt er die Art und Weise, wie in Liechtenstein der Bio-Anbau durch den permanenten Austausch mit den Landwirten gefördert wird.

Die Bio-Betriebe hier gehören eher zu den größeren im Land. Viele von ihnen produzieren Kuhmilch. Es gibt außerdem Höfe, die Ziegen, Pferde oder Rinder für die Fleischproduktion halten. Diese Bewirtschaftung passt gut zur Landschaft, die viele Dauergrünlandflächen bietet. Doch auch Gemüse, Obst und Wein werden produziert. Die Vielfalt an Bio-Erzeugnissen ist groß und die verschiedenen Standbeine machen die Betriebe wirtschaftlich resilient. Schließlich wird auch ihre Arbeit durch die Klimawandel immer anspruchsvoller, aber auch wichtiger. „Der Biolandbau bietet durch höhere Bodenfruchtbarkeit und breitere Fruchtfolgen Vorteile, wenn es um das Wasserspeichervermögen der Böden geht.“ Außerdem ist der Humusaufbau ein entscheidender CO2-Fänger und -Speicher. Biolandbau in Liechtenstein ist modern und zukunftsweisend. Er macht die eigenen Bauern, die Verbraucher und die Umwelt zu Gewinnern. Kopieren erwünscht.

Unser Interview-Partner: Florian Bernardi (Jg 1984) hat in Österreich Agrarwissenschaften studiert und dort auch promoviert. Seit 2010 ist er als Berater in Lichtenstein tätig. Zu seinen Aufgaben gehören u.a. einzelbetriebliche Beratungen, die Leitung von Arbeitsgruppen und Projekten, Öffentlichkeitsarbeit, Bearbeitung von Anfragen der Politik, Regierung und Behörden. An seinen Aufgaben schätzt er besonders die Chance, Neues vorantreiben zu können, um den Biolandbau weiterzuentwickeln.

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Ökologische Landwirtschaft und Suffizienz gehören zusammen

Ökologische Landwirtschaft und Suffizienz gehören zusammen

Ein Beitrag von Manfred Linz.

1. Ökologische Landwirtschaft ist ein Landbau, für den die Bodenfruchtbarkeit zentral ist, der ohne synthetischen Stickstoff, Pestizide, industrielle Importfuttermittel und Gentechnik wirtschaftet. Ökologische Landwirtschaft orientiert sich an einer organischen Kreislaufwirtschaft, die auf vielfäl­tige Fruchtfolge achtet, die Ackerbau und Viehzucht miteinander verbindet und aufeinander abstimmt. In der Viehzucht gilt artgerechte Tierhaltung.

2. Suffizienz ist in der gegenwärtigen Diskussion um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen der Erde die bewusste und beabsichtigte Verringerung des Bedarfes an Energie, vor allem fossiler Herkunft, an Rohstoffen und an Fläche, und zwar durch menschliches Verhalten, also durch eine verminderte Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Persönliche Suffizienz geschieht durch Veränderung des eigenen Lebensstils. Suffizienzpolitik richtet sich auf die Begrenzung des oben genannten Bedarfes in Produktion und Konsum durch fördernde und verpflichtende Maßnahmen der öffentlichen Hand.

Ökologische Landwirtschaft fördert und braucht die Suffizienz.

3. Ökologische Landwirtschaft ist in sich eine Form der Suffizienz. Sie spart fossile Energie ein, verwendet keinen mineralischen Dünger,  verzichtet auf importierte Futtermittel und verwirft die Anwendung von Pestiziden.

4.  Ökologische Landwirtschaft ermöglicht die ausreichende und gesunde Ernährung einer weiter wachsenden Weltbevölkerung. Sie erlaubt jedoch nicht die Fortsetzung der gegenwärtigen luxurierenden Ernährungsweisen, die die Grundlagen der Welternährung zerstören. Mit Bezug auf die derzeit prägenden Konsummuster erfordert die Ökologische Landwirtschaft Maßhalten und Verzichte, ist also auf Suffizienz angewiesen.

5. Maßhalten und Verzichte beziehen sich vor allem auf Nahrungsmittel, für deren Herstellung große Mengen von (fossiler) Energie, Wasser, industriell angebauten Futtermitteln und mineralischem Dünger erforderlich sind. Dazu zählen etwa die in Massentierhaltung erzeugten Nahrungsmittel Fleisch, Eier, Milchprodukte und der industriell gefangene Fisch. Diese Produkte erzeugt die Ökologische Landwirtschaft sowohl unvermeidlich als auch bewusst in geringerer Menge als die industrielle Landwirtschaft. Da auch viele der weiter verarbeiteten und konfektionierten Produkte der Ernährungsindustrie erhebliche Mengen von Energie und Rohstoffen verbrauchen, gelten Maßhalten im Verzehr und Einschränkungen in der Produktion ebenso für sie.

6. Ökologische Landwirtschaft fördert die Suffizienz. So geben Konsumenten der Ökologischen Landwirtschaft in der Regel Nahrungsmitteln aus der eigenen Region Vorrang vor langen Transportwegen, und sie bevorzugen Produkte der jeweiligen Ernte-Saison. Auch kann der vorrangige Konsum ökologischer  Produkte zu einem Bewusstseinswandel und Wertewandel führen, der einen suffizienten Lebensstil fördert. Damit stärkt Suffizienz wiederum die Ökologische Landwirtschaft.

Suffizienz fördert und braucht die Ökologische Landwirtschaft

7. Suffizienz kann auf vielfältige Weise die Ökologische Landwirtschaft begünstigen. Zunächst, indem ein suffizienter Lebensstil ihr zugute kommt. Etwa, wenn Konsumenten bereit sind, die oben unter 5. genannten Lebensmittel nicht oder doch sparsam zu verwenden, und  zum Schutz der Umwelt und um der Qualität der naturbelassenen Nahrungsmittel willen für Produkte der Ökologischen Landwirtschaft den dafür erforderlichen Preis zu bezahlen.

8. Erfahrung lehrt freilich, dass nur ein begrenzter Teil der Bevölkerung aus eigenem Entschluss zu einem suffizienten Lebensstil findet. Auch Ratschläge, Ermunterungen, Appelle bewegen zu wenige Menschen zu suffizientem Verhalten; und wenn und wo es gelingt,  bleiben Maßhalten und Bescheidung ein Patchwork, weichen also immer wieder der Gewohnheit und der Bequemlichkeit .

9. Wer darum die Suffizienz auch für die Ökologische Landwirtschaft wirksam machen möchte, wird sie als eine politische Aufgabe verstehen, ihr also durch staatliche Förderung, durch Gesetze und Verordnungen Geltung verschaffen. Zu denken ist hier an eine konsequente Minderung des Lebensmittelverderbs durch Förderung und Verordnung seitens der öffentlichen Hände, an eine Steuer für konventionell erzeugtes Fleisch, an ein Verbot der Massentierhaltung, an eine Lebensmittelampel, die auf hohe Mengen von Fett, Zucker und Salz aufmerksam macht, und nicht zuletzt sondern eher zuerst an eine ökologische Umwidmung der Flächenprämie der Europäischen Union. Alle Maßnahmen dieser Art können die Grundlagen einer ausreichenden und gesunden Ernährung festigen.

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Streitschrift zur Zukunft unserer Ernährung: „Landwirtschaft am Scheideweg“

Streitschrift zur Zukunft unserer Ernährung: „Landwirtschaft am Scheideweg“

Die Missernte des Sommers 2018 zeigt, dass die industrielle Landwirtschaft dem Klimawandel nicht gewachsen ist. Im Gegenteil: Sie feuert ihn weiter an. Sie zerstört die Bodenfruchtbarkeit, erschöpft die Wasservorräte und beschleunigt den Artenschwund. Die Ernährung zukünftiger Generationen steht auf dem Spiel.

Die Untätigkeit der Politik darf nicht länger hingenommen werden. In dieser Überzeugung fordert ein breites Bündnis der deutschen Zivilgesellschaft eine öffentliche Debatte über die Zukunft unserer Ernährung. Dazu stellt es heute in Berlin die Streitschrift „Landwirtschaft am Scheideweg – Nur eine ökologische Landwirtschaft kann zehn Milliarden Menschen ernähren“ vor.

Im Vorfeld des Welternährungstags am 16. Oktober 2018 fordert das Bündnis aus Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft e.V., NABU – Naturschutzbund Deutschland e.V. , Naturfreunde Deutschland e.V., Slow Food Deutschland e.V., Slow Food Europe und Institut für Welternährung – World Food Institute e.V. eine ökologische Wende: „Jetzt geht es um eine grundlegende Veränderung, um ein innovatives Agrar- und Ernährungssystem, das sich in biologische Kreisläufe und ökologische Netzwerke einpasst, das auf soziale Beziehungen und ökonomischen Ausgleich setzt und damit die Ernährung auf Generationen hinaus sichert, ohne die ökologischen Grenzen unseres Planeten zu überschreiten.“

Die Mitunterzeichner setzen vor allem auf die Zivilgesellschaft. Sie rufen dazu auf, die gegenwärtige politische Blockade einer Ernährungswende durch zivilgesellschaftliche Aktionen zu durchbrechen:

• Die Zivilgesellschaft setzt Signale der Veränderung durch Desinvestment aus den Aktien der Agrar- und Ernährungsindustrie.

• Sie schafft Vorbilder, indem sie darauf dringt, dass Kommunen und Kirchen für ihren großen Grundbesitz nur noch Pachtverträge abschließen, die ökologisches Wirtschaften fördern.

• Sie verlangt, dass öffentliche Mittel der Bundesrepublik wie der Europäischen Union nur für gesellschaftlich geforderte Leistungen der Landwirtschaft vergeben werden, die vom Markt nicht ausreichend vergütet werden.

• Sie unterstützt die neue Ernährungsbewegung in Deutschland, die ökologische Ernährungskonzepte als Teil lokaler und regionaler Politik entwickelt.

• Sie fordert, dass chemisch-synthetische Pestizide aus der Produktion verbannt werden, ebenso wie Antibiotika aus der Tierhaltung.

Für die Initiatoren der Streitschrift ist die ökologische Transformation der Landwirtschaft eine globale Herausforderung. Sie startet als ein europäisches Projekt, das in den Regionen beginnt und von einer wachen Zivilgesellschaft getragen wird.

Die Streitschrift „Landwirtschaft am Scheideweg – Nur eine ökologische Landwirtschaft kann zehn Milliarden Menschen ernähren“ steht in verschiedenen Versionen als PDF zum Download zur Verfügung: Kurzversion (DE), Langversion (DE), Short Version (EN), Long Version (EN)

Foto: Rubén Díaz Caviedes/Flickr (CC BY-SA 2.0)

IWEStreitschrift zur Zukunft unserer Ernährung: „Landwirtschaft am Scheideweg“
Zerstört die Landwirtschaft das Klima?

Zerstört die Landwirtschaft das Klima?

IWE-Dossier: 10 Milliarden Menschen ernähren ohne das Weltklima zu ruinieren – Wege aus einem globalen Konflikt

Das Weltklima wird ohne eine drastische Veränderung der Landwirtschaft nicht zu retten sein. Das ist das Ergebnis des Dossiers: „Zerstört die Landwirtschaft das Klima? 10 Milliarden Menschen ernähren ohne das Weltklima zu ruinieren – Wege aus einem globalen Konflikt“, das das Institut für Welternährung – World Food Institute e.V., Berlin, IWE, anlässlich der Klimakonferenz in Marrakesch vorlegt.

Die Landwirtschaft trägt global zu einem Viertel zur Klimabelastung bei. Zu den stärksten Treibern im System der modernen Agrarwirtschaft zählt der synthetische Stickstoffdünger. „Vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltbevölkerung wird sein Gebrauch in Zukunft weiter massiv steigen,“stellt der Sprecher des IWE Dr. Wilfried Bommert fest. Bisher gebe es für diesen Bereich jedoch weder klare Reduktionsziele noch eine wirksame Begrenzungsstrategie. Auch in ihrem Klimaschutzplan für Marrakesch habe sich die Bundesregierung nicht dazu durchringen können, den synthetischen Stickstoff als Klimaproblem anzusprechen.

„Es ist zwingend notwendig, die synthetische Düngung grundlegend zu überdenken und an ihre Stelle organische Quellen der Stickstoffversorgung zu setzen,“ erklärt Bommert, der auch Mitautor des Dossiers ist. „Aus Klimasicht empfiehlt sich bis 2050 eine Doppelstrategie: Zum einen Ausstieg aus der mineralischen Stickstoffdüngung und zum anderen der zügige Einstieg in eine flächendeckende agrarökologische Bewirtschaftung.“

Wenn die Landwirtschaft nicht stärker in die Bemühungen zur Verringerung der Treibhausgase einbezogen wird, sieht das Institut für Welternährung die Ziele der Bundesregierung bei Klimaschutz und Welternährung in Gefahr, In einem Brief an die Bundeskanzlerin fordert das IWE von der Bundesregierung, den gegenwärtig favorisierten Weg einer vom synthetischen Stickstoff getriebenen Landwirtschaft zu verlassen und durch Gesetzgebung wie auch durch Forschungsförderung die Agrarökologie ins Zentrum ihrer Bemühungen zu rücken.

„Zerstört die Landwirtschaft das Klima? 10 Milliarden Menschen ernähren ohne das Weltklima zu ruinieren – Wege aus einem globalen Konflikt“, Recherche: Anne Preger, Redaktion: Wilfried Bommert und Manfred Linz. Veröffentlicht 15.11.2016

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