Das Konzeptwerk Neue Ökonomie und die Heinrich-Böll-Stiftung haben mit dem „Societal Transformation Scenario“ (STS) einen risikoarmen und sozial gerechten Klimaschutzpfad zur Einhaltung der 1,5°C-Grenze veröffentlicht. Das Szenario modelliert erstmals, wie die globale Erderwärmung ohne den Einsatz risikoreicher Technologien wie Geo-Engineering oder neue Investitionen in Atomkraft durch eine sozial-ökologische Transformation auf 1,5°C begrenzt werden kann. Die Autor*innen berechnen für verschiedene Sektoren wie Transport, Ernährung und Wohnen konkrete, jährliche Emissionsreduktionsziele und skizzieren Vorschläge für einen sozial-ökologisch verträglichen Umbau. Damit können die globalen Emissionen von 2020 bis 2030 um 50 Prozent und von dort bis 2050 um weitere 22 Prozent reduziert werden.
Die Ergebnisse des STS zeigen beispielsweise für den Transportsektor in Industrieländern eine Entwicklung die zu 3% weniger Endenergieverbrauch pro Jahr führt, während – zum Vergleich – in den Corona-Lockdowns der Rückgang im Transportsektor bis zu 50 Prozent betrug. Auch im Gebäudebereich kann durch bessere Technik, geringere Geräteausstattungen und Wohnraumflächen pro Person (im statistischen Mittel) bis 2050 zwei Drittel des Energieverbrauchs eingespart werden.
Zudem könnten aufgrund von Ernährungsumstellungen wie einem Rückgang des Fleischkonsums in Industrieländern um rund 60 Prozent große landwirtschaftliche Gebiete in natürliche Ökosysteme zurückgeführt oder so nachhaltig bewirtschaftet werden. Die Ergebnisse der Modellberechnung zeigen aufgrund eines Kaskadeneffektes durch die erstgenannten Sektoren auch in der Industrie einen starken Rückgang der Energienachfrage im globalen Norden um bis zu 50 Prozent.
Berechnet wurden die Treibhausgasreduktionen des STS mit dem Global Calculator. Dieser erlaubt es die Auswirkungen verschiedenster Produktions- und Konsumniveaus auf den globalen Treibhausgasausstoß zu berechnen. Um die historischen Verantwortung des Globalen Nordens abbildbar zu machen, haben die Autor*innen das Modell angepasst.
Europe faces its greatest SDG challenges in the areas of sustainable diets and agriculture, climate and biodiversity – and in strengthening the convergence of living standards across its countries and regions. Even before the onset of the pandemic, no European country was on track to achieve all 17 SDGs by 2030.
The EU and partner countries were performing especially poorly on SDG 2 (No Hunger), due to unsustainable diets, high and rising obesity rates, and unsustainable agricultural and farming practices. Major performance gaps are seen for SDG 12 (Responsible Consumption and Production), SDG 13 (Climate Action), SDG 14 (Life Below Water), and SDG 15 (Life on Land).
Education and innovation capacities must be strengthened to accelerate the convergence in living standards across EU Member States, and to equip EU citizens with the skills they need to thrive in a digital economy. That is the Summary of the Europe Sustainable Development Report 2020, which was issued in Paris and Brussel.
„Europe Sustainable Development Report 2020 – Meeting the Sustainable Development Goals in the face of the COVID-19 pandemic“ was prepared by teams of independent experts at the Sustainable Development Solutions Network (SDSN) and the Institute for European Environmental Policy (IEEP).
Den 45-minütigen Dokumentarfilm „Der Bauer mit den Regenwürmern“ von Bertram Verhaag gibt es am Sonntag, den 6. Dezember 2020 ab 16.30 Uhr im Live-Stream zu sehen. Zur Anmeldung geht es hier.
Sepp und Irene Braun sind seit 1984 Biobauern. Auf ihrem Hof in der Nähe von Freising betreiben sie neben biologischem Ackerbau auch biologische Viehzucht. Der Ökolandbau ist für die beiden eine Antwort auf die Frage des Klimawandels. Während sich auf konventionell bewirtschafteten Äckern durchschnittlich 16 Regenwürmer pro m2 finden lassen, tummelt sich bei Sepp und Irene Braun ungefähr die 25-fache Menge. Dass sie die Lebensbedingungen der fleißigen Helfer berücksichtigen, versteht sich von selbst: ihre „Wohnungen“ werden nicht durch schwere Maschinen platt gewalzt und eine eigens gesäte Kleekräutermischung dient als Winterfutter für die kleinen Helfer. Regenwurmkot liefert wertvollen Humus bis zu 2cm pro Jahr und 2m tiefe Regenwurmröhren, die pro Stunde bis zu 150 Liter Wasser aufnehmen und im Boden speichern können. Durch die erhöhte Bodenfruchtbarkeit erwirtschaften Sepp und Irene Braun weit mehr als ihre auf chemische Düngung setzenden Nachbarn. Das spricht sich herum: selbst die Frau des senegalesischen Präsidenten kündigt überraschend ihren Besuch an.
IWEOnline-Screening: Der Bauer mit den Regenwürmern
Buchrezension zu Andreas Volz‚ „Blauer Mais und rote Kartoffel – Eine kleine Kulturgeschichte bekannter und weniger bekannter Nahrungspflanzen“von IWE-Vorstand Wilfried Bommert
Was hat die Maya bewegt, den Gott des Mais zu ihrem wichtigsten Gott zu erklären? Warum wurde der Mensch aus Mais geschaffen? Wieso schützt ein Maiskolben einsame Kinder davor, dass jemand ihre Seele stiehlt? Warum konnte sich der Mais über die ganze Welt verbreiten und ist heute eine der wichtigsten Pflanzen für die Ernährung von Mensch und Vieh? Wer die Kultur des Maisanbaus bis in seine Anfänge vor etwa 7000 Jahren verfolgt, kann viele Geschichten entdecken, die einem Körner und Kolben, so wie sie heute kultiviert werden, nicht mehr verraten.
Der Ethnologe Andreas Volz erzählt diese und andere Geschichten über unsere Nutzpflanzen in seinem Buch „Blauer Mais und rote Kartoffel – Eine kleine Kulturgeschichte bekannter und weniger bekannter Nahrungspflanzen„. Er geht der Spur der Kartoffeln nach, verfolgt die Wege von Amaranth und Quinoa. Fragt nach den dem Ursprung von Sesam, Reis und Sojabohnen. Erfreut den Leser und die Leserin mit der Geschichte von Datteln, Bananen, Erdnüssen und Süßkartoffeln.
Auch Exotisches wie Pfeilwurz und Tigernuss finden im Kompendium, das Andreas Volz unterhaltsam und lehrreich verfasst hat, ihren Platz. Mit einer Fülle von Abbildungen und Karten, mit traditionellen Rezepten – nicht nur kulinarischen, sondern auch solchen, die der Heilung und Gesundheit dienen-, ist ihm auf mehr als 550 Seiten eine vielfältige Kulturgeschichte ausgewählter Nahrungspflanzen gelungen, die ihresgleichen sucht. Eine Empfehlung für alle, die mehr über die Ursprünge unserer Ernährung wissen wollen.
Eine neue Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) unterstreicht die zwingende Notwendigkeit von industrieller Landwirtschaft ebenso Abschied zu nehmen wie von den Ernährungsgewohnheiten der Industrieländer.
Während die einen mit Pizza Hawaii, Eiscreme und Cola oder Limo stetig weiter zunehmen, leben die anderen nur von einer Handvoll Reis und Bohnen und hungern. Diese Kluft wird sich voraussichtlich vergrößern, und der Druck auf die Umwelt wird zunehmen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des PIK. Die Ergebnisse alarmieren: Bis 2050 könnten 45 Prozent der Weltbevölkerung übergewichtig und davon 16 Prozent fettleibig sein – im Vergleich zu etwa 29 und 9 Prozent im Jahr 2010. Gleichzeitig würden weiterhin 500 Millionen Menschen an Untergewicht leiden und das Ökosystem weit über seine Grenzen belastet sein.
Der Anstieg von Übergewicht und Fettleibigkeit ist u.a. auf den Trend zu unausgewogenen, hochverarbeiteten Speisen mit viel Zucker und Fett zurückzuführen, während Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte aus den Mahlzeiten verdrängt werden. Zunehmende Verschwendung von Nahrungsmitteln und der steigende Konsum von Fleisch und Milchprodukten führen dazu, dass die Umweltfolgen des Agrarsystems nicht mehr zu beherrschen sind. Der Schluss der Forscher: „Wir gehen an die Belastungsgrenzen unseres Planeten – und darüber hinaus.“
„Ungesunde Ernährung ist das weltweit größte Gesundheitsrisiko“, erklärt Ko-Autorin Sabine Gabrysch, Leiterin der Forschungsabteilung Klimaresilienz am PIK. „Viele Länder in Asien und Afrika kämpfen derzeit noch mit Unterernährung und den damit verbundenen Gesundheitsproblemen. Gleichzeitig sind sie zunehmend auch mit Übergewicht und in der Folge mit einer steigenden Belastung durch Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs konfrontiert“, so Gabrysch. Die neue Studie biete hier wertvolle Orientierung über den möglichen Entwicklungspfad verschiedener Länder und Regionen. Sie könne auch die dringend benötigte proaktive Politik hin zu einer nachhaltigen und gesunden Ernährung befördern.
Kommunen, Städte, Kirchen und öffentliche Institutionen sind häufig Eigentümer*innen von Agrarflächen. Das öffentliche Land bietet eine riesige Chance für eine zukunftsfähige Landnutzung. Dafür muss die lokale Agrarpolitik neu gestaltet werden. Das Handbuch „Agrarwende konkret – Wie wir die Landnutzung lokal umgestalten“ ist für alle geschrieben, die einen konkreten Wandel im Umgang mit öffentlichem Land anstoßen wollen.
Es soll Inspiration bieten, um selbst aktiv zu werden und Wege aufzeigen, die Agrarwende vor Ort einzuleiten. Die gemeinnützige Organisation FINC will damit ihre Erfahrungen teilen, die sie in der Diskussion um die Verpachtung der öffentlichen Agrarflächen der Stadt Greifswald sammeln konnten. Und vor allem will FINC dazu motivieren, die Agrarwende in die eigenen Hände zu nehmen und sich für eine naturverträgliche und faire Verpachtung öffentlicher Agrarflächen einzusetzen.
Berlin hat als eine der ersten Städte die Mailänder Erklärung unterzeichnet und sich damit verpflichtet, ein gerechtes und dauerhaft zukunftsfähiges Ernährungssystem umzusetzen. Mit der Aktionskonferenz will der Ernährungsrat Berlin Aktive aus Ernährungswende-, Klimaschutz- und sozialen Bewegungen zusammenbringen, um gemeinsam die klimagerechte Ernährungswende 2030 in die Wege zu leiten und ein breites Bündnis aus engagierten Menschen, Organisationen und Bewegungen zu bilden.
Nur gemeinsam können wir die Berliner Ernährungswende wirksam gestalten! Deshalb lädt der Ernährungsrat alle ein zur großen Online-Aktionskonferenz vom 19. – 21. November 2020.
Die Aktionskonferenz richtet sich an Vereine, Initiativen, Unternehmen, Verbände sowie an engagierte Einzelpersonen, die ganz unterschiedliche Perspektiven einbringen: Kleingärtnerinnen, Köche, Klimaaktivistinnen, Logistiker, Ökotrophologinnen, Stadtplaner, Permakulturisten, Caterer, Wissenschaftlerinnen und viele mehr. Gemeinsam will der Ernährungsrat mit Euch zur Tat schreiten und Umsetzungsprojekte und Ideen für ein zukunftsfähiges Ernährungssystem in Berlin und Region entwickeln.
Die Aktionskonferenz ist der Startschuss zur Wende. Dort soll ein konkreter „Klima-Acker- und Speise-Plan“ entstehen, der konstruktive, praktikable Lösungsansätze, phantasievolle Aktionsideen und Forderungen an politische Entscheidungsträger*innen enthält.
Die gesamte Veranstaltung findet online über Zoom statt. Meldet Euch unter aktionskonferenz@ernaehrungsrat-berlin.de an, um den Zugangslink zu bekommen. Bitte gebt dabei an, für welche Tage Ihr Euch anmeldet (Do, Fr und/oder Sa)! Hier geht’s zur Webseite der Konferenz.
In der 11. Folge der Sendung Superluminar des Stern geht es um die Frage „Zerstört unser Fleischkonsum das Klima?“ Wie weit sind wir von einer nachhaltigen Lebensmittelproduktion entfernt? Welches Fleisch ist besonders klimaschädlich? Und wie viele Lebensmittel landen im Müll? Redakteur Hannes Holtermann sprach darüber mit unserem IWE-Vorstand Wilfried Bommert und Alexander Schrode, Vorstand des Vereins NAHhaft.
IWESuperluminar-Folge: Zerstört unser Fleischkonsum das Klima?
Wann: 31. Oktober, 10–18 Uhr Wo: Neue Schule für Fotografie (ausgebucht) Live-Stream:Bitte melden Sie sich per Email bis 28. Oktober unter info@neue-schule-fotografie.berlin an.
Das Symposium stellt verschiedene Aspekte des noch jungen und fototheoretisch wenig erforschten Gebiets der Umweltfotografie vor. Wie wird die Umweltkrise in dokumentarischen und künstlerischen Positionen dargestellt? Welche historischen und zeitgenössischen Strategien gibt es in der Umweltfotografie, welche fototheoretischen Positionen? Welche Fotos haben tatsächlich Veränderungen angestoßen? Diese Fragen werden Referent*innen in ihren Vorträgen für das Symposium untersuchen.
Programm
10.15 Uhr: Begrüßung und Einführung – Dr. Susanne Holschbach und Ines Meier, Neue Schule für Fotografie
10.30 Uhr: PD Dr. Gisela Parak, Deutsches Schifffahrtsmuseum / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte Bremerhaven, „Protokoll einer verpassten Chance: Umweltschutz im Ausstellungsnarrativ der 1970er Jahre“
Mit „Project Documerica“ rief die amerikanische Umweltschutzbehörde 1971 eine Fotoagentur ins Leben, deren Bilder die Öffentlichkeit für aktuelle Themen sensibilisieren sollte. Eine besondere Funktion kam hierbei der 1974 eröffneten Ausstellung „Our Only World“ zu. Der Vortrag erörtert Programmatik und Umsetzung dieser Ausstellung und kontrastiert sie mit der 1969 im American Museum of National History präsentierten Schau „Can Man Survive?“
Als Dokumentarfotografin begleitete Esther Horvath 2019/20 Arbeit und Leben der Wissenschaftler*innen der MOSAiC-Expedition an Bord des Eisbrechers Polarstern sowie auf dem Meereis des Arktischen Ozeans. Während der monatelangen Polarnächte waren die Stirnlampen des Teams und die Scheinwerfer des Eisbrechers die einzigen Lichtquellen. Der ohrenbetäubende Wind und die tiefschwarze Dunkelheit sorgten für eine surreale Szenerie. In ihrem Vortrag nimmt Esther Horvath das Publikum mit auf eine Eisscholle und in die absolute Finsternis der Polarnächte und zeigt, wie Expeditionsteilnehmer*innen am entlegensten Ort unseres Planeten leben und arbeiten.
12.30–14 Uhr: Mittagspause
14.00 Uhr: Dr. Anna-Katharina Wöbse, Umwelthistorikerin, „Help! Umweltengagement und Fotografie im Anthropozän“
In den 1920er-Jahren erschüttert ein verstörendes Fotomotiv die Öffentlichkeit: Bilder von verölten Vögeln werden zu einem Topoi der internationalen Naturschutzbewegung. Sie bringen eine komplizierte Angelegenheit – die chronische Verschmutzung der Weltmeere – auf einen einfachen visuellen Punkt. Aus der Dokumentation entwickeln sich politische Aktionen – ein idealtypischer Prozess, der aber weder selbstverständlich noch einfach berechenbar ist. Der Beitrag wirft einen Blick auf Wechselwirkungen zwischen fotografischer Erzählung und Umweltengagement im 20. Jahrhundert.
15.00 Uhr: Claudius Schulze, Fotograf und Forscher, „Biosphere X“
Der Werkzyklus „Biosphere X“ führt zwei epochenprägende Entwicklungen zusammen: Das Verschwinden von Fauna einerseits und die Entstehung neuer Spezies durch künstliche Intelligenz, Bionik und Gentechnik andererseits. Während die Welt für Maschinen verständlich wird, verschwindet sie gleichzeitig für immer. Während das Physische in Bits und Bytes übersetzt wird, sterben Arten, weil deren Lebensgrundlage verloren geht. Werden Drohnen und Roboter die Tier- und Pflanzenwelt ersetzen? Können künstliche Intelligenz und Bionik dazu beitragen, Umweltprobleme zu lösen? Oder werden die Vorbilder aus der Natur verschwunden sein, bevor Ingenieure von ihnen lernen konnten? Welche Arten hätten sich entwickeln können, wäre die Evolution nicht gestört worden? Im Rahmen eines intensiven Forschungsprozesses bearbeitet Claudius Schulze mit großformatigen Fotografien, 3D-Scans, Animationen und seiner eigenen künstlichen Intelligenz diese Fragen.
16.00–16.30 Uhr: Kaffeepause
16.30–17.30 Uhr: Kurzpräsentationen Teilnehmer*innen Projekt „Biodiversität und Landwirtschaft“, Neue Schule für Fotografie
Die industrielle Landwirtschaft gehört zu den Hauptverursachern von Artensterben und Klimakrise, leidet aber gleichzeitig massiv unter den Folgen. Mit welchen Bildern können wir als Fotograf*innen die Öffentlichkeit auf dieses drängende Thema aufmerksam machen und positive Veränderungen bewirken? Eine Auswahl Studierender und Alumni der Neuen Schule für Fotografie, die an dem Projekt „Biodiversität & Landwirtschaft“ teilnehmen, stellen ihre fotografischen Arbeiten vor.
Das Symposium „Bilder für die Zukunft. Positionen der Umweltfotografie“ findet im Rahmen des European Month of Photography Berlin statt und ist Teil des Projekts „Biodiversität & Landwirtschaft“ der Neuen Schule für Fotografie Berlin, das durch die Heinrich-Böll-Stiftung, die Firma Hahnemühle, die GLS Bank, die Berliner Landeszentrale für politische Bildung, das Institut für Welternährung und das Ökodorf Brodowin gefördert wird.
Ein Kommentar von IWE-Vorstand Wilfried Bommert zur EU-Agrarreform
Es sind die Worte, die Realitäten schaffen. Was politisch nicht zu erreichen ist, wird wenigstens verbal hochgehalten, um zu Hause nicht ganz das Gesicht zu verlieren.
Die deutsche Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner steht unter Druck von vielen Seiten. Von der Agrarlobby, die ein „weiter so“ mit ihren Traktoren erzwingen will. Von der Ernährungsindustrie, die die Ministerin als willfähriges Aushängeschild für ihre kalorienreiche aber gesundheitsarme Massenproduktion nutzt. Von den Umweltverbänden, die versuchen, ihr eine Ernährungswende abzuringen. Mit der deutschen Präsidentschaft hat sie nun auch noch die unwilligen Staaten Europas am Hals, die in ihrer Mehrheit alles wollen außer Bewegung und schon gar keine ökologische. Wer vor dieser Szenerie nicht verzweifelt, muss ein dickes Fell haben oder ein strategisches Sprachvermögen. Und das kann man der Ministerin nicht absprechen, als sie nach durchgesessener Nacht an die Öffentlichkeit trat und ein Ergebnis verkünden musste, dass keinerlei Taten in Richtung einer klimaverträglichen Landwirtschaft enthält. Was ihr und ihren Berater*innen blieb, um wenigstens die eigene Haut zu retten, war Wording. Die richtige Wortwahl, die verschleiert und beschönigt, was nicht zu beschönigen ist.
Der Kompromiss um die Zukunft der europäischen Agrarpolitik gibt vor, ein Meilenstein in Richtung Umweltverträglichkeit zu sein. Zwanzig Prozent der Mittel, die bisher wahllos verteilt wurden, sollen in Eco-Schemes fließen – Umweltprogramme, die sich die Nationalstaaten selbst ausdenken können. Und wenn die Bauern da nicht anbeißen, fällt das Geld zurück in die alte Gießkannenförderung. Meilenstein, super!
Dieser Mogelpackung auch noch der Titel „Systemwechsel“ umzuhängen, zeigt die Not, in der die Ministerin steht. Sie muss mit einem vorzeigbaren Ergebnis zurück in ein Deutschland kommen, in dem die Grünen immer mehr Land gewinnen. Und wenn das der Kompromiss nicht hergibt, dann zumindest das Wording, mit dem er nun verkauft werden soll. Wer Geschichten kennt, der denkt hier an „Des Kaisers neue Kleider“. Sie sollten die peinliche Nacktheit einer Majestät kaschieren, die längst den Bezug zur Wirklichkeit verloren hat.
Das Verfahren macht klar, das nach wie vor Einsteins Lehrsatz gilt: Die, die mit ihrer Strategie den Karren in den Dreck gefahren haben, werden ihn mit der gleichen Strategie nicht heraus bekommen. Da braucht es andere Kräfte. Und die sitzen nicht in Brüssel oder Straßburg am Verhandlungstisch, sondern in Köln und Hamburg, in Berlin und München – in mehr als 50 deutschen Städten. Sie sitzen als Bürger*innen in Ernährungsräten, die sich vorgenommen haben, das verfahrene Ernährungssystem politisch von unten neu aufzustellen, in der Region, für die Region, fair und klimaverträglich. Für sie ist das Signal aus Brüssel ein Meilenstein, der ihnen klar macht, dass es für ihre Arbeit an einer Ernährungswende von unten keine Alternative gibt. Und es ist ein Aufruf zum Systemwechsel, nicht als rhetorische Hülse, wie die deutsche Agrarministerin ihn nutzt, sondern als Vision, die Realität werden kann, wenn man ehrlich und engagiert daran arbeitet. Politik statt Wording und nicht Wording statt Politik.
IWESystemwechsel und Meilensteine – Wording statt Politik