Der Irrsinn der Verhältnisse: Buchkritik zu „Die Neuerfindung des Unternehmertums“

Der Irrsinn der Verhältnisse: Buchkritik zu „Die Neuerfindung des Unternehmertums“

„Die Neuerfindung des Unternehmertums: Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution“ von Reinhard Pfriem

Eine Buchkritik von Wilfried Bommert

 „Die Frage ist, ob wir da noch einmal rauskommen.“ Reinhard Pfriem, der Professor Emeritus für Unternehmensführung und betriebliche Umweltpolitik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, ist sich am Ende seines Opus Magnum nicht mehr sicher. Kriegen wir die Kurve noch einmal hin? Oder steuern wir sehenden Auges auf das Ende unserer Zivilisation zu, auf die thermische Vernichtung unserer Welt?

Dabei sollten wir wissen, so Pfriem, wo das rettende Ufer liegt. In einer solidarischen Gesellschaft, in einer solidarischen Ökonomie, in einer Transformation des Unternehmertums. Weg von der Idee, dass die Märkte die Misere schon wieder bereinigen werden, die sie angerichtet haben, weg von dem alles beherrschenden Prinzip der Gewinnmaximierung.

Für Reinhard Pfriem müssen die Unternehmer:innen der Zukunft weder Schlips noch Kragen tragen, dafür aber ein gerütteltes Maß an Verantwortung gegenüber der Welt, in der sie wirtschaften. Ist dies im Kapitalismus machbar? Oder wird hier Unmögliches gefordert? Ohne die Hoffnung, dass die Grenzen des Systems zu überwinden sind, geht es für Pfriem nicht. Auch nicht ohne radikale Demokratie, in der Teilhabe wichtiger ist als Repräsentation, in der die Ökonomie wieder das Pferd wird, dass den Karren zieht und nicht der Kutscher, der den Weg bestimmt. Dazu muss sich auch die Wissenschaft anders aufstellen. Weg von einer Wissenschaft, die ohne Ansehen der gesellschaftlichen Probleme in ihrem Elfenbeinturm forscht, hin zu einer, die die Kräfte des gesellschaftlichen Wandels unterstützt und sich selbst als Möglichkeitswissenschaft versteht.

Utopien? Ja, für Reinhard Pfriem gilt es das Unmögliche zu fordern, damit das Undenkbare abgewendet werden kann. Zum Ausgang seines Werkes bringt er das ins Spiel, was dringend zu tun und deshalb zu fordern ist. Er benennt die Bausteine einer besseren Zukunft. Wenn es uns gelingt, die Klimakatastrophe und damit die thermische Vernichtung unserer Zivilisation auszubremsen, indem wir unsere Mobilität und unsere Energiesysteme solar organisieren, unseren Fleischkonsum drosseln, eine Ernährungswende mit einer ökologischen Landbewirtschaftung auf den Weg bringen, wäre ein Anfang gemacht.

Aber damit ist die Welt für den politischen Ökonomen Reinhard Pfriem noch keineswegs auf zukunftsfähigen Kurs. Ohne eine solidarische Weltpolitik, die sich Vertreibung und Flucht ernsthaft annimmt, ohne eine Friedenspolitik, die vor Verteidigungspolitik rangiert, ohne eine Wirtschaftspolitik, die globale Gerechtigkeit vor nationale Bereicherung stellt und ohne ein Europa, dass sich der Solidarität verschreibt, anstatt die Schwächeren auszugrenzen, ohne all dies wird es nicht getan sein. Es ist eine Frage der Vernunft, der Selbsterhaltung, des wohlverstanden Eigennutzes.

Wenn Reinhard Pfriem sein letztes Kapitel mit dem Zitat einleitet „Immer mehr Affen bezweifeln, dass der Mensch von ihnen abstammt“, dann leuchtet noch einmal der Irrsinn der Verhältnisse auf, in die wir uns in den letzten 100 Jahren gebracht haben und auch ein Hauch von Resignation, dass die Affen am Ende recht haben könnten. Und „die Frage ist, ob wir da noch einmal rauskommen“.

Reinhard Pfriem führt uns in seinem Buch mit klarem politischen Blick vor Augen, wie weit wir vom enkeltauglichen Weg abgekommen sind. Aber er zeigt uns auch die politischen Möglichkeiten auf, die wir haben, um unser Schicksal doch noch zu wenden. Ein engagiertes, lesenswertes und tiefgründiges Werk, empfehlenswert.
 
Pfriem, R. (2021) Die Neuerfindung des Unternehmertums: Solidarische Ökonomie, radikale Demokratie und kulturelle Evolution, Theorie der Unternehmung, Bd. 73, Metropolis Verlag. 

IWEDer Irrsinn der Verhältnisse: Buchkritik zu „Die Neuerfindung des Unternehmertums“
Online-Lesung: Tanja Busse „Fleischkonsum“ 

Online-Lesung: Tanja Busse „Fleischkonsum“ 

Liebe Mitglieder und Freund:innen des IWE,

hiermit möchten wir euch ganz herzlich zur Online-Lesung mit Tanja Busse aus ihrem aktuellen Buch „Fleischkonsum – 33 Fragen und Antworten“ einladen.

Die Lesung findet am Mittwoch, den 23. Februar 2022 von 20.00 – 21.30 Uhr statt, im Anschluss gibt es Gelegenheit zum Austausch. 

Dr. Tanja Busse ist Moderatorin, Autorin und Journalistin. Sie schreibt über Ökonomie, Ökologie, Umwelt, Nachhaltigkeit, Ernährung, Landwirtschaft, Konsum & Politik.

Ihr könnt euch bis zum Nachmittag des 23. Februar anmelden unter info@kinderleicht-ev.de oder 089/716 77 50 40 und erhaltet anschließend den Zugangslink für die Zoom-Veranstaltung.

Die Lesung findet im Rahmen des Projekts „Cooking for future“ statt, das das Ernährungsinstitut KinderLeicht von IWE-Vorständin Agnes Streber durchführt. 

Wir freuen uns, euch dort zu sehen!
Herzliche Grüße im Namen des Vorstands,
Wilfried Bommert 

IWEOnline-Lesung: Tanja Busse „Fleischkonsum“ 
IWE -Studie: Bundeskantinen ökologisch mangelhaft

IWE -Studie: Bundeskantinen ökologisch mangelhaft

Was in den Bundeskantinen in Töpfen und Pfannen für die Bundesbediensteten angerichtet wird, dürfte der Regierung selbst kaum schmecken. Denn was da täglich tausendfach auf den Tellern landet, ist alles andere als klimafreundlich und verträgt sich in der Mehrzahl der Fälle weder mit den klimapolitischen Zielen noch mit dem ökologischen Anspruch der neuen Regierung.

Das jedenfalls ergibt eine jüngst abgeschlossene Studie zur Verpflegung in den bundeseigenen Kantinen, die das Institut für Welternährung in Kooperation mit der Hochschule Darmstadt durchgeführt hat. [1]

Das Fazit: Die Bundesregierung schadet durch ihre Kantinenwirtschaft dem eigenen Ansehen und der internationalen Glaubwürdigkeit ihrer Politik.

Die Erkenntnisse, die Svea Spieker, Hochschule Darmstadt, Fachbereich Media im Rahmen ihrer Masterarbeit bei 54 Kantinen des Bundes gewonnen hat, zeigen:  

  • dass gerade Fleisch zu häufig und in zu großen Mengen auf dem Teller landet und mit bis zu 750 Gramm pro Woche teilweise mehr als drei Mal so hoch liegt wie die von Experten empfohlene Menge von max. 200 Gramm
  • dass vegetarische und vegane Gerichte zu selten angeboten werden
  • dass Kriterien wie bio, regional und fair bei den Bundeskantinen bislang unterbelichtet sind
  • dass Kommunikation mit der Kantinenkundschaft über die Nachhaltigkeit des Speiseangebots nur in Ansätzen stattfindet. Bei den Entscheidungen über die Umwelt- und Klimaverträglichkeit bleibt der Essensgast weitestgehend sich selbst überlassen.
  • dass lokale Anbieter, regionale Verarbeiter und kleinere Bauern keinen angemessenen Platz als Zulieferer finden
  • dass es nur in einem Drittel der Kantinen verbindliche Vorgaben des Bundes in Sachen Nachhaltigkeit gibt

Dabei gibt die Studie nach dem Urteil der Autorin noch eher die Sonnenseite der Kantinenwirtschaft des Bundes wieder. Denn von den 150 angeschriebenen Kantinen haben nur ein Drittel teilgenommen. Es ist anzunehmen, dass diese auch in Sachen Nachhaltigkeit die Motivierteren sind. Zwei Drittel lehnten trotz Nachfragen eine Teilnahme ab.

Unter dem Strich, so Agnes Streber, Projektleiterin:

  • verfehle die Bundesregierung in ihren Kantinen die eigenen Umweltziele und Nachhaltigkeitsansprüche,
  • versage damit als Motor für eine klimaverträgliche Ernährungswende,
  • vergibt die Chance, regionale ökologische Wirtschafts- und Ernährungskreisläufe zu stärken
  • und verpasst die Möglichkeit, mit ihren Kantinen Standards für Klima und Gesundheit zu setzen, die in Kitas, Schulen und Mensen als Vorbild dienen könnten

Die derzeitige Praxis in Bundeskantinen, so der Sprecher des Instituts für Welternährung Wilfried Bommert, liegt weit hinter den Zielen, die die Bundesregierung 2021 in ihrem „Maßnahmenprogramm Nachhaltigkeit – Weiterentwicklung 2021“ selbst beschlossen hat und stelle die Glaubwürdigkeit der klima-, tierschutz-, umwelt- und gesundheitspolitischen Ziele der Ampelkoalition in Frage.

Vor dem Hintergrund der drängenden ökologischen Krise und der rasant steigenden Fehlernährung der deutschen Bevölkerung legt die Studie den dringenden Handlungsbedarf des Bundes in seiner Kantinenwirtschaft offen und betont dabei fünf Bereiche besonders:

  1. Vorrang für vegetarische und vegane Speisen
  2. Vorrang für bio, regional, saisonal und fair
  3. Vorrang für ökologische Kundenkommunikation mit den Kantinenbesuchern
  4. Vorrang für kleinere, lokale Anbieter sowie regionale Verarbeiter und Landwirte
  5. Verbindliche Vorgaben des Bundes in Sachen Nachhaltigkeit

Eine Zusammenfassung der Studienergebnisse können Sie hier als PDF herunterladen, die Studie „On the Way to a Sustainable Future“ finden Sie hier.

Pressekontakt Institut für Welternährung: Sabine Jacobs
Tel.: +49 (0) 2293 815 07 0 / Fax: +49 (0) 2293-815071
Mail: sabine.jacobs@institut-fuer-welternaehrung.org 


[1]On the Way to a Sustainable Future
Analysis and Optimisation of Sustainability Management and Communication using the Example of the Food Sector
Final thesis in the course of study Media, Technology and Society to obtain the academic degree Master of Science (M.Sc.) submitted by Svea Spieker, Matriculation number 752 832 , August 2021

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Buchtipp: „Berlin isst anders“

Buchtipp: „Berlin isst anders“

Die Metropolregion Berlin-Brandenburg hat riesiges Potenzial, zu einem Zentrum der Ernährungswende zu werden – das ist die zentrale These des vom Ernährungsrat Berlin herausgegebenen Buchs „Berlin isst anders. Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“.

Neben extrem vielen Initiativen und Projekten gibt es in der Region hochrangige Forschungseinrichtungen und Hochschulen, die zum Thema arbeiten. Auch die Landesregierung hat mit ihrer Unterschrift unter das Mailänder Abkommen erklärt, ein nachhaltiges Ernährungssystem aufbauen zu wollen.

Das Buch liefert nicht nur eine kritische Bestandsaufnahme, wie zum Beispiel, dass 21 bis 37 Prozent der klimaschädlichen Gase auf die heutige Art der Ernährung zurückzuführen sind, immer mehr Menschen an Übergewicht und Allergien leiden, und die Lebensmittelvorräte in der Stadt gerade einmal für drei Tage reichen. Es macht auch Hoffnung, vorausgesetzt die Politik nimmt sich des Themas in angemessener Weise an.

Der Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) Johan Rockström hat mit einem Team einen konkreten Speiseplan pro Kopf erarbeitet, der für Planet und Menschheit dauerhaft gesund ist. Die TU Berlin konnte mit einem Praxisversuch nachweisen, dass auf Berlins Dächern große Teile des benötigten Frischgemüses und erhebliche Mengen Fisch produzierbar sind. Die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung in Eberswalde (HNEE) erforscht, wie mehr Lebensmittel aus Brandenburg nach Berlin gelangen können – denn heute bauen die meisten Brandenburger Betriebe für den Weltmarkt an. Dabei könnte die Stadt mit ihren 3,7 Millionen Einwohnern aus einem Umkreis von etwa 100 Kilometern ernährt werden, wie das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) errechnet hat.

Viele Initiativen und Unternehmen arbeiten an innovativen Lösungen – von Zusammenschlüssen von Bäuerinnen und Konsumenten über Logistikkonzepte bis hin zu vielfältigen Kultur-, Bildungs- und Urban-Gardening-Projekten. „Eine nachhaltigere Ernährung braucht viele Akteure, und die Arbeit von Ernährungsräten und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren ist enorm wichtig” sagte Professor Harald Grethe von der Humboldt-Universität. Unter seiner Leitung hatte der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz im vergangenen Jahr das 800-Seiten-Gutachten ‘Politik für eine nachhaltige Ernährung’ veröffentlicht. „Die Agrar- und Ernährungspolitik agiert viel zu zögerlich und es braucht mehr politischen Mut zur Gestaltung der erforderlichen Nachhaltigkeitstransformation”, so Grethe weiter.

Deshalb fordert der Ernährungsrat Berlin von der neuen Landesregierung, dass sie Ernährung als Querschnittsthema ganz oben ansiedelt. Viele Ressorts müssen zusammenarbeiten, denn es geht um Änderungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Klima- und Umweltschutz, Wirtschaft, Sozialpolitik, Arbeit, Verbraucherschutz, Verkehr, Kultur und Forschung. Außerdem ist insbesondere wegen der Landwirtschaft eine enge Kooperation mit Brandenburg dringend geboten. Zugleich wird die Ernährungswende aber nur gelingen, wenn die Bevölkerung mitzieht.

Deshalb schlägt der Berliner Ernährungsrat die Errichtung einen Ernährungscampus vor, wo die Stadtgesellschaft gemeinsam und partizipativ Antworten sucht auf die drängende Frage: Wie können Produktion und Konsum aller Lebensmittel die planetaren Grenzen wahren und zugleich sozial fair sein? „Heute verdienen einige Wenige Milliarden mit skandalösen Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen und durch zentralisierte Handelsstrukturen – und zugleich reichen die Hartz IV-Sätze nicht aus, um Lebensmittel nach dem Standard der Deutschen Gesellschaft für Ernährung einzukaufen“, sagt Sabine Werth, Gründerin und Vorsitzende der Berliner Tafel. Werth verweist außerdem darauf, dass die hohen Mieten und die mangelhafte Versorgung armer Bevölkerungsgruppen mit guten Lebensmitteln einen unmittelbaren Zusammenhang haben. Eltern die Schuld für das Übergewicht ihrer Kinder zu geben, sei vor diesem Hintergrund zynisch.

Der Berliner Ernährungsrat hat für das Buch mit Forscherinnen und Caterern, Bauern, Bäckerinnen und Lehrern, Menschen aus der Verwaltung und Armutsbetroffenen gesprochen. Der Slow Food Chef Alliance-Koch Ottmar Pohl-Hoffbauer arbeitet jetzt in einer Kita und versorgt dort 100 Kinder aller sozialer Herkünfte mit bioregionalem Essen. „Weil wir auf Fleisch verzichten und praktisch nichts wegwerfen, ist das Angebot sogar günstiger als vorher, als noch ein Caterer das Essen geliefert hat“, berichtete Pohl-Hoffbauer. Er selbst wird jetzt wie ein Angestellter im Öffentlichen Dienst bezahlt und ist begeistert von seiner neuen Arbeit: „Ich lerne hier unglaublich viel darüber, wie ich Gemüse zubereiten muss, damit es den Kindern schmeckt.“

Der Ernährungsrat Berlin möchte mit dem Buch Politiker*innen sowie Zivilgesellschaft aufrütteln und Mut machen, sich mehr für das zentrale Thema Ernährung zu engagieren.

Das Buch „Berlin isst anders. Ein Zukunftsmenü für Berlin und Brandenburg“ kann hier kostenlos als PDF heruntergeladen werden. Eine Druckversion kann zum Solidaritätspreis von 20,30 Euro über epubli bestellt werden. Zudem ist das Buch im Buchandel erhältlich.

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Für einen globalen Ökohumanismus

Für einen globalen Ökohumanismus

Die kommenden gesellschaftlichen Großkonflikte werden ganz erheblich von ökologischen Faktoren beeinflusst. Dennoch wird die ökologische Frage nicht im Zentrum stehen, da kurz- und mittelfristig soziale Spannungen in den Vordergrund drängen. Wie kann sie dennoch die nötige Berücksichtigung erfahren? 

Durch eine Weiterentwicklung ökologischen Denkens zu einem radikalen und globalen Ökohumanismus – sagen Pierre L. Ibisch und Jörg Sommer. Die beiden Mitherausgeber des  JAHRBUCH ÖKOLOGIE laden zu einer offenen Debatte ein: Wie muss sich unser Denken im Anthropozän verändern, damit wir eine ökologisch verträgliche und sozial gerechte Zukunft gestalten können.

Dieses ePaper von Pierre L. Ibisch und Jörg Sommer ist als Abschlusskapitel des JAHRBUCH ÖKOLOGIE 2021 „Ökologie und Heimat“ erschienen und steht hier zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Pierre L. Ibisch ist Biologe und Professor für Nature Conservation und Direktor des Centre for Econics and Ecosystem Management an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde; Forschungsprofessur für Ökosystembasierte nachhaltige Entwicklung; stv. Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung; Mitherausgeber des JAHRBUCH ÖKOLOGIE.

Jörg Sommer arbeitet als Sozialwissenschaftler und Publizist. Er ist u.a. Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, Direktor des Berlin Institut für Partizipation, Vorsitzender der Gesellschaft für Jugend und Sozialforschung, Koordinator der Allianz Vielfältige Demokratie und geschäftsführender Herausgeber des JAHRBUCH ÖKOLOGIE. 

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Food system impacts on biodiversity loss

Food system impacts on biodiversity loss

The paper „Food system impacts on biodiversity loss“, published by the independent policy institute Chatham House, explores the role of the global food system as the principal driver of accelerating biodiversity loss. It explains how food production is degrading or destroying natural habitats and contributing to species extinction. The paper outlines the challenges and trade-offs involved in redesigning food systems to restore biodiversity and/or prevent further biodiversity loss, and presents recommendations for action.

The paper introduces three ‘levers’ for reducing pressures on land and creating a more sustainable food system. The first is to change dietary patterns to reduce food demand and encourage more plant-based diets. The second is to protect and set aside land for nature, whether through re-establishing native ecosystems on spared farmland or integrating pockets of natural habitat into farmland. The third is to shift to more sustainable farming. All three levers will be needed for food system redesign to succeed.

Download the paper „Food system impacts on biodiversity loss“ as PDF here.

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Globale Biodiversität in der Krise – Was können Deutschland und die EU dagegen tun?

Globale Biodiversität in der Krise – Was können Deutschland und die EU dagegen tun?

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen der Biodiversität, Ökologie, Ökonomie, Anthropologie und integrierten Landsystem-Forschung haben sich mit Fragen der globalen Krise der biologischen Vielfalt befasst. In dem daraus resultierenden Diskussionspapier „Globale Biodiversität in der Krise – Was können Deutschland und die EU dagegen tun?“ und in dem dazugehörenden Dokumentationsband zeigen die Autorinnen und Autoren auf, wie Deutschland und Europa reagieren sollten, um das gemeinsame Ziel zu erreichen, den Verlust an Biodiversität zu stoppen.

Die Vielfalt von Pflanzen und Tieren ist eine unserer wichtigsten Lebensgrundlagen. Teil der Evolution war und ist immer auch das Aussterben und die Neuentstehung von Arten. In den letzten Jahrzehnten ist jedoch ein in der Geschichte der Erde bisher nie erreichtes Massenaussterben von Pflanzen- und Tierarten zu beobachten. Der Einfluss des Menschen auf alle Bereiche unserer Umwelt hat so nicht nur zu Klimawandel geführt, sondern auch dazu, dass ein großer Teil der biologischen Vielfalt unwiederbringlich verloren gegangen ist. Was dies für das langfristige Überleben der Menschheit bedeutet, ist aktuell kaum abschätzbar. Wichtig ist jedoch, dass sowohl der Schutz des Klimas als auch der Schutz der Biodiversität untrennbar miteinander verbundene Herausforderungen für die Menschheit sind.

Die Weltgemeinschaft hat bereits bei der Konvention von Rio 1992 die Dringlichkeit anerkannt, die dem Biodiversitätsschutz zukommt. In den letzten fast 30 Jahren verpflichteten sich die Vertragsstaaten zu verschiedenen Zielen, die dem Schutz der Biodiversität dienen sollen und den Verlust der Vielfalt möglichst stoppen sollten. Vieles wurde erreicht, aber der Verlust der Vielfalt geht kaum gebremst weiter.

Publikationen in der Reihe „Leopoldina Diskussion“ sind Beiträge der genannten Autorinnen und Autoren. Mit den Diskussionspapieren bietet die Akademie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Möglichkeit, flexibel und ohne einen formellen Arbeitsgruppen-Prozess Denkanstöße zu geben oder Diskurse anzuregen und hierfür auch Empfehlungen zu formulieren.

Das Diskussionspapier „Globale Biodiversität in der Krise – Was können Deutschland und die EU dagegen tun?“ können Sie hier als PDF herunterladen, den Dokumentationsband hier.

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Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln

Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln

Die Forschungsstrategie „Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln“ der Deutschen Agrarforschungsallianz zeigt, wie die Bedingungen für Honig- und Wildbienen und das Zusammenwirken von Bienen, Imkerei und Landwirtschaft verbessert werden können. Damit soll zum Erhalt der biologischen Vielfalt, zur Verbesserung der Erträge durch optimierte Bestäubungsleistung und zur Resilienz von Agrarökosystemen und landwirtschaftlichen Produktionssystemen beigetragen werden.

Die Strategie formuliert drei Forschungsfelder:

1. Förderung der Bienen-Vitalität (Gesundheit, Leistung, Fitness)

2. Agrarlandschaften und Anbausysteme entwickeln

3. Wechselwirkungen zwischen landwirtschaftlichen Praktiken und Bienen verstehen, um Synergien zu erreichen

Die Empfehlungen beruhen unter anderem auf den Ergebnissen zweier Workshops, an denen insgesamt rund 150 Personen aus Landwirtschaft, Imkerei, Naturschutz, Verwaltung, Wissenschaft und Politik teilgenommen haben. In diesen Veranstaltungen wurden Ist- und Zielzustände verglichen sowie Wege und Forschungsbedarfe für ein synergistisches Zusammenwirken von Bienen und Landwirtschaft diskutiert.

Die Strategie formuliert drei zentrale Forschungsfelder. Dabei steht die Vitalität der Wild- und Honigbienen an erster Stelle, weil diese ihre Rolle im Agrarökosystem bzw. in der Imkerei nur ausfüllen können, wenn sie gesund und leistungsfähig sind. Das zweite Forschungsfeld widmet sich der Frage, wie die Landschaftsstrukturen sowie die Nutzungs- und Bewirtschaftungsformen der Landschaft die Häufigkeit, Diversität und Vitalität der Bienen beeinflussen. Das dritte Forschungsfeld nimmt die Wechselwirkungen zwischen Landwirtschaft, Kulturlandschaft und Bienen in den Blick.

Die Forschung, so eine weitere Forderung, muss flankiert werden durch geeignete Forschungs- und Förderungsstrukturen und eine bessere Kommunikationsstruktur zwischen Forschung, Landwirtschaft, Berufs- und Hobbyimkerei, Amtstierärzten, Beratung und Kommunen. Da neue Erkenntnisse zu Bienengesundheit gegenwärtig über viele verschiedene Einrichtungen, Verbände und Einzelpersonen verbreitet werden müssen, sollte eine zentrale Plattform für Daten-, Wissens- und Kommunikationsmanagement eingerichtet werden.

Ohne eine passende politische Gestaltung kann das Zusammenwirken von Bienen und Landwirtschaft jedoch nicht längerfristig erfolgreich sein. Im marktwirtschaftlichen Wettbewerb können es sich Landwirte in der Regel nicht leisten, ihre Produktionssysteme „betriebswirtschaftlich suboptimal“ auszurichten, indem sie unentgeltlich öffentliche Leistungen erbringen.

Die Politik steht somit vor der Herausforderung, den agrar- und ordnungspolitischen Rahmen so zu entwickeln, dass bienenförderndes Handeln für die Landwirte im betriebswirtschaftlichen Interesse liegt oder zumindest keinen Wettbewerbsnachteil darstellt. Dazu müssen geeignete Maßnahmen entwickelt werden, die mit vertretbarem Aufwand rechtssicher kontrollierbar, regional steuerbar und kulturspezifisch ausgearbeitet sind und mögliche Zielkonflikte mit anderen agrarpolitischen Zielen minimieren.

Die DAFA ist eine Gemeinschaftsinitiative der deutschen Agrar- und Ernährungsforschung. Ihr gehören über 60 deutsche Universitäten, Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sowie Bundes- und Landesforschungsinstitute an. Das Netzwerk verfolgt das Ziel, die Leistungsfähigkeit sowie die nationale und internationale Sichtbarkeit der deutschen Agrar- und Ernährungsforschung zu verbessern und für die Praxis wirksam zu machen.

Die DAFA-Strategie „Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln“ kann hier als PDF in deutscher Sprache heruntergeladen werden und hier in der englischen Fassung.

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Ökologische Landwirtschaft und SDGs: Bio ist Teil der Lösung

Ökologische Landwirtschaft und SDGs: Bio ist Teil der Lösung

Da die Weltbevölkerung bis 2050 voraussichtlich auf 9,7 Milliarden steigen wird, wird die Deckung des künftigen Nahrungsmittelbedarfs als große globale Herausforderung angesehen. Um zu verhindern, dass Nahrungsmittel für eine wachsende Bevölkerung knapp werden, müssen sowohl der Klimawandel als auch der weltweite Konsum angepackt werden – hier sind vor allem Maßnahmen zur Erhöhung des weltweiten Angebots und der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln gefragt. Nach Angaben der FAO müssen diese Maßnahmen darauf abzielen, „mehr mit weniger zu produzieren, den Schwerpunkt auf Qualität und Vielfalt zu legen, Produktivität mit Nachhaltigkeit zu verbinden und auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen“.

Am 1. Januar 2016 haben die Vereinten Nationen und all ihre Mitgliedstaaten die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet, ein auf 17 Nachhaltigkeitszielen basierender Aktionsplan zur Bewältigung der wichtigsten globalen Herausforderungen der kommenden 15 Jahre. Die Lösung dieser komplexen Herausforderungen und das Erreichen der SDGs erfordern einen ganzheitlichen sowie transformativen Ansatz, der auf den Grundsätzen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit aufbaut.

Der Bericht „Ökologische Landwirtschaft und die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung“ befasst sich eingehender mit der vorhandenen Literatur, wie eine nachhaltige Landwirtschaft zur Erreichung mehrerer Nachhaltigkeitsziele beitragen kann – genauer gesagt: wie der ökologische Landbau die Erreichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstützen kann. Darüber hinaus wird sich auch Bezug auf die negativen Auswirkungen von Agrochemikalien auf die SDGs genommen.

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Landwirtschaft am Scheideweg

Landwirtschaft am Scheideweg

Der Artikel von IWE-Vorstand Wilfried Bommert erschien in der Zeitschrift Ökologie & Landbau.

Auf dem Weg zu einer Ökologisierung des Agrar- und Ernährungssystems gibt es einige Hemmnisse. Diese sind oft in überkommenen Strukturen begründet. Kann ein Systemwechsel also überhaupt gelingen? Für Wilfried Bommert kommt es auf die kritische Masse an, damit die Vision „100% Bio“ Realität wird.

Hat Bio das Potenzial, die Welt zu ernähren? Un­möglich, urteilt die Allianz der industriellen In­tensivlandwirtschaft. Dagegen sprächen allein schon die Erträge, bei einem Minus von 25 Prozent könne der Hunger der zukünftig zehn oder zwölf Milliarden Erdbewoh­ner nicht gestillt werden. Dabei wird stillschweigend übergan­gen, dass das Potenzial des ökologischen Wegs bisher kaum ausgeschöpft ist. Die Vielfalt an ökologischen Systemen der weltweiten Landwirtschaft ist groß, weit größer als die Flä­chen, die nach den Kriterien der Bioanbauverbände zerti­fiziert und bewirtschaftet werden. Und die Produktivität hält jedem Vergleich stand, wenn man nicht nur Hektarerträge, sondern auch Gewinne an Bodenfruchtbarkeit, Wasserhalte­vermögen, Artenvielfalt, Pestizidfreiheit und Resilienz gegenüber Klimaextremen, also die gesamten Ökosystemleistun­gen, berücksichtigt.

Potenzial zur Ernährung der Welt

Eines der bedeutendsten agrarökologischen Systeme findet sich im Reisanbau. Es setzt auf Extensivierung und bringt dennoch mehr Ertrag hervor. Obwohl es ein extensives Sys­tem ist, erhielt es irreführender Weise den Namen „System of Rice Intensification“. Es verzichtet auf synthetischen Stickstoff und Pestizide, verbessert den Boden, verbraucht nur die Hälf­te des sonst üblichen Wassers und trägt zur Entlastung des Klimas bei, indem es die Nassphase des Reisanbaus, in der Methan entsteht, weitgehend ausfallen lässt. Sein Erfolg be­ruht auf der Erweiterung der Pflanzabstände der Reispflan­zen, die so mehr Wurzelraum erhalten und mehr Triebe bilden können. Auf diese Weise erhöht sich der Ertrag pro Hektar im Schnitt von zwei auf acht Tonnen (Uphoff, 2014). Mittlerweile haben rund fünf Millionen Bauern in über 50 Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika das System übernommen. In China und Indien wird es offiziell von den Behörden gefördert.

Megastädte, die sich ökologisch (selbst) versorgen

Eine besondere Herausforderung für die Zukunft stellen die schnell wachsenden Megastädte dar, wie sie in Afrika, Asien und Lateinamerika entstehen. Wie können sie versorgt wer­den? Südamerika, wo die Städtebildung am weitesten fortge­schritten ist, zeigt mögliche Wege. In der Stadt Rosario in Argentinien schuf die Stadtregierung ein Programm zur Un­terstützung landloser Landarbeiter, die aus dem Hinterland verdrängt wurden, und armer Städter. Sie sollten ihr eigenes Gemüse auf Brachland in der Stadt anbauen, um sich selbst zu versorgen. Die Initiative wurde unter dem Namen „Pro­ grama de Agricultura Urbana (PAU)“ bekannt. Sie führte zu einem Boom städtischer Landwirtschaft, aus dem neue lokale Märkte und Verarbeitungsbetriebe entstanden, die heute ihr Geld damit verdienen, dass sie organisch angebautes Obst und Gemüse, aber auch verarbeitete Produkte an die wohl­habendere Stadtbevölkerung verkaufen. In Brasilien stellte das Zero­Hunger­Programm die Kleinbauern in städtischen Zentren in den Mittelpunkt. Ziel war es, ökologische und da­mit preisgünstige Produkte zu fördern und mit ihnen die ärmere Bevölkerung der Großstädte zu versorgen. Heute wirtschaften 4,3 Millionen brasilianische Kleinbauern nach ökologischen Prinzipien in den großen Städten des Lan­ des und in ihrem Umkreis.

Auf Kuba zeigt das Beispiel Ha­vannas, wie eine Stadt ihre Selbstversorgung steigern kann. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste Kuba eine neue Basis für die eigene Ernährung entwickeln. So wur­den die Brachflächen und Grünanlagen der Städte zu Gärten mit ökologischer Bewirtschaftung, die bei Gemüse mehr als die Hälfte des Bedarfs decken (Koont, 2011). Die hier vorgestellten Beispiele bilden noch keine abgesicherte Strategie zur Versorgung der zukünftigen Megastädte. Sie zeigen jedoch, dass die Zivilgesellschaft weltweit schon heute über eine große Spannbreite erfolgreicher ökologischer Syste­me verfügt. Sie bilden die kritische Masse, mit der ein System­wechsel in ökologischer Vielfalt gestaltet werden kann. Dies auch, weil eine intensivierte Bioforschung und -­praxis noch erhebliche Steigerungen der Erträge erwarten lassen – und das nicht nur in den Entwicklungsländern.

Woran eine zügige Umsetzung zu mehr Bio scheitert

In den Industrieländern und so auch in Deutschland ist die ökologische Agrarforschung ein Stiefkind der Forschungs­förderung. Hier liegt ihr Anteil am gesamten landwirtschaft­lichen Forschungsetat des Bundes bei sechs Prozent. Das wa­ren 2017 rund 278 Millionen Euro. Der geringe Stellenwert des Ökolandbaus im Bereich Forschung spiegelt das geringe politische Interesse wider. Das wird sich grundlegend ändern müssen. Die Zuweisung staatlicher Forschungsmittel muss drastisch steigen, bis 2030 mindestens auf 20 Prozent, um ei­ner flächendeckenden Biolandwirtschaft das notwendige Fundament zu geben.

Einer zügigen und flächendeckenden Ökologisierung steht in Deutschland ein Leitbild der Ernährungspolitik entgegen, das in den 1950er­Jahren geprägt wurde und weiter Bestand hat. Es ist das Leitbild der industrialisierten Landwirtschaft, das im Nachkriegsdeutschland entwickelt wurde. Es sollte die Prinzipien der Industrie auf die Landwirtschaft übertragen. Durch den Einsatz von Technik, Chemie, Hochleistungszucht und Spezialisierung sollte die Produktivität massiv erhöht werden; zum einen, um den Hunger der Nachkriegsjahre zu besiegen, zum anderen, um in der Landwirtschaft Arbeits­kräfte für die boomende Industrie freizusetzen. Der Erfolg dieser Strategie, die aus einem engen Zusammenspiel der landwirtschaftlichen Verbände, der vor­ und nachgelagerten Industrien, der Politik und der Verwaltung bestand, trug zu dem bei, was als deutsches „Wirtschaftswunder“ in die Ge­schichte einging.

Diese agroindustrielle Koalition besteht wei­ter, verfolgt weiterhin das Ziel einer umfassenden Indus­trialisierung und zieht gegen eine Ökologisierung der Landwirtschaft in Deutschland zu Felde. Sie schafft bis heute über die europäische Agrarpolitik immer größere Mono­strukturen auf den Äckern und in den Ställen. Ihr Einfluss ist besonders den Konzernen zuzuschreiben, die zu immer grö­ßeren wirtschaftlichen Machtkomplexen heranwuchsen und mittlerweile globale Dimensionen erreicht haben.
Diese ökonomische Machtballung fördert den politischen Einfluss einer vielfältigen Lobby, die das Konzept der inten­siven Landwirtschaft, des globalen Handels und der indus­triellen Verarbeitung von Lebensmitteln in der ganzen EU sichert und verteidigt.

Zu den stabilisierenden Säulen des Systems gehört auch der Deutsche Bauernverband, dessen Vertreter in den Aufsichtsräten der Agrarkonzerne sitzen und in Deutschland bis in die Ausschüsse des Bundestags vordrin­gen konnten. Ein weiteres Hindernis für die Abkehr vom dominierenden Leitbild sind die Bauern selbst und ihre Investitionen. Getrie­ben von Verbandspolitikern, die die globalen Milch-­ und Fleischmärkte als Heilsversprechen ausgaben, wurde in Ge­bäude und Maschinen investiert. Investitionen in Milliarden­höhe, die über Jahre zurückgezahlt werden müssen und nun den Entschluss erschweren oder auch verhindern, neue Wege einzuschlagen.

Wie die Vision Realität werden kann

Existiert vor dem Hintergrund der Macht­ und Interessen­ballung für ein industrielles Agrarsystem überhaupt die Chance für einen Wechsel hin zu einer Ernährung, die öko­logisch und regional orientiert ist? Die grundlegende Öko­logisierung des Agrar­ und Ernährungssystems kann in Eu­ropa nur ein gesamteuropäisches Projekt sein. Da die Politik sich kaum bewegt, wird die Zivilgesellschaft den notwendigen Systemwechsel einleiten müssen. Die Weichen dafür müssen in Brüssel gestellt werden. Aber die Impulse dafür werden von den europäischen Gemeinschaftsstaaten und von ihren Bür­gern gesetzt. Die Energiewende in Deutschland ist ein Beweis dafür, dass eine solche Strategie „von unten“ Erfolg haben kann. Sie zeigt, welche Hebel dafür in Bewegung gesetzt werden müssen: Beispiel geben, Vorbilder schaffen, Märkte entwickeln, politi­sche Koalitionen schmieden, die öffentliche Förderung neu justieren.

Im Zentrum muss eine neue Weichenstellung in der europä­ischen Agrar-­ und Handelspolitik stehen. Ihr Ziel: Kein Euro darf in Zukunft ohne Prüfung seiner ökologischen Wirkung ausgegeben, kein Vertrag ohne Blick auf die Folgen für die Ernährung der Menschen geschlossen werden. Unter den politischen Maßnahmen, mit denen die Europäische Union die Transformation des Ernährungssystems beginnen muss, steht die Umwidmung der Flächenprämie an vorderster Stelle. Flankierend sollte die Zivilgesellschaft die Diskussion über eine ökologische Transformation des Agrarsystems fördern, indem sie Fragen stellt:

  • nach der Sicherheit von Geldanlagen der Bürger in Fonds und Versicherungen, die ihre Gewinne aus dem Geschäft der Intensivlandwirtschaft ziehen,
  • nach der Praxis der Verpachtung von kirchlichem und kommunalem Land – Kirchen und Kommunen als große Landbesitzer müssen bei der Agrarwende vorangehen,
  • nach der öffentlichen Förderung von Bürgerinitiativen, die in deutschen Städten regionale Ernährungskonzepte entwickeln,
  • nach einem Verbot von Antibiotika in der Tierhaltung, wenn sie Multiresistenzen und damit lebensgefährliche Erkrankungen begünstigen,
  • nach einem Verbot von Pestiziden, die als Hauptursache des massiven Insektensterbens identifiziert und dennoch nicht aus dem Verkehr gezogen werden,
  • und schließlich ob Bauern nicht für Fehlinvestitionen in die industrielle Landwirtschaft entschädigt werden sollten, so wie die Kohle­ und Atomindustrie in der Energiewende.

Nur die Entlastung von diesen Verbindlichkeiten wird es den bäuerlichen Betrieben ermöglichen, dem Zwang zum „Weiter so“ zu entkommen und einen ökologischen Neubeginn zu wagen. Ziel all dieser Aktionen muss es sein, ein politisches Klima zu schaffen, das Ökolandbau bis zur Mitte des Jahrhunderts zum Goldstandard der Landwirtschaft erhebt, wie es der Rat für Nachhaltige Entwicklung schon 2011 empfahl. Die „Vision 100 % Bio“ – so kann sie gelingen.

Zum Weiterlesen: Bommert, W., M. Linz (2018): Landwirtschaft am Scheideweg. Nur eine ökologische Landwirtschaft kann zehn Milliarden Menschen ernähren. Eine Streitschrift. Abrufbar unter kurzlink.de/bommert_linz

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