Politik muss Schulverpflegung zur Chefsache machen: Interview mit Ernährungswissenschaftler Prof. Volker Peinelt

Gutes Essen hält Leib und Seele zusammen. An Kitas und Schulen kümmert das offensichtlich kaum. Das Essen unserer Kinder spielt im Lehrplan keine Rolle. Auch wenn es von Experten mangelhaft und ungenügend bewertet wird, kann es sich weiter halten, Hauptsache der Preis stimmt. Satt und billig ist die Devise, mit der die Esskultur kommender Generationen vergeigt wird. Ein gesunder Geist braucht einen gesunden Körper und der eine gesunde Ernährung. Der Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Volker Peinelt fordert seit Jahren eine bessere Verpflegung an deutschen Schulen, und zwar kostenfrei. Das würde gerade mal 10% der Subventionen ausmachen, die bei uns von Staat für klimaschädliche Dienstwagen spendiert werden. Karin Vorländer fragte ihn, was sich in deutschen Schulmensen ändern muss.

Herr Professor Dr. Peinelt, Sie machen sich als Ernährungswissenschaftler seit vielen Jahren für Verpflegung an Schulen stark. Warum ist Ihnen das Thema Schulverpflegung so wichtig?

Hierfür gibt es mehrere Gründe. In der Jugend wird der Grundstein für eine gesunde Ernährung gelegt. Bis zu 20% der Jugendlichen in Deutschland sind übergewichtig und viele werden ihr Übergewicht als Erwachsener beibehalten. Damit sind meist zahlreiche Erkrankungen verbunden, wie z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes mellitus[1]. Ein hochwertiges und schmackhaftes Mensaessen in Verbindung mit Ernährungsunterricht kann somit einen maßgeblichen Beitrag für die Volksgesundheit leisten.

Außerdem sollten auch praktische Fertigkeiten für die Zubereitung von Speisen erworben werden. Nur wenn Schüler über Jahre Unterricht in Theorie und Praxis der Ernährung erhalten, können bessere Ernährungsgewohnheiten dauer­haft geprägt werden.

Ein weiterer Grund ist der Einfluss, der durch staatliche Maßnahmen und vorgegebene Qualitäts-Standards auf die Schulverpflegung ausgeübt werden kann. Allerdings reichen die bisherigen Maßnahmen nicht aus. An der Hochschule Niederrhein wurde ein Konzept für die Schulverpflegung entwickelt, mit dem sie auf ein hohes Niveau gebracht werden könnte.

Welche positiven Effekte für Klimaschutz und Umwelt könnten mit einer guten Schulverpflegung einhergehen?

Die Ernährung hat einen großen Einfluss auf das Klima und die Umwelt. Im Vordergrund steht der zu hohe Fleischkonsum. Dieser müsste drastisch reduziert werden, um die CO2-Emissionen zu mindern. Die Verringerung des Fleischverzehrs kann in der Schule durch geeignete Rezepte kennengelernt werden. Der aktuelle Trend zur veganen Ernährung ist hilfreich. Des Weiteren müsste der Anteil an Bio-Lebensmitteln erhöht werden.

Darüber hinaus sind zahlreiche weitere Maßnahmen notwendig, um den Carbon-Footprint in der Schulverpflegung zu verringern, z.B. die Reduzierung der Speisenabfälle oder der Einsatz energiesparender Geräte. In den Q-Standards werden einige Vorgaben gemacht, die allerdings nicht verbindlich sind und noch ausgeweitet werden müssten.

Wo hapert es in Deutschland bei der gegenwärtigen Schulverpflegung? Worin sehen Sie die Gründe für die Mängel und Defizite?

Nachfolgend werden einige wichtige Punkte genannt:

  • In Deutschland fehlt ein bundesweiter Masterplan, der alle wesentlichen Aspekte der Schulverpflegung verbindlich regelt. Wegen der Zuständigkeit der Bundesländer für die Schulverpflegung könnte dieser aber nur dann realisiert werden, wenn das Grundgesetz geändert wird. Das sind hohe Hürden.
  • Hierzulande werden überwiegend die falschen Verpflegungssysteme eingesetzt, nämlich die Warmverpflegung und die Frischkost. Die Warmverpflegung liefert meist wegen langer Heißhaltezeiten eine schlechte Qualität (oft ≥4 Std). Da dieses System aber am billigsten ist und geringe Anforderungen stellt, wird es häufig gewählt. In Deutschland ist der Preis wichtiger als die Qualität. Würde man die Warmverpflegung so optimieren, dass sie akzeptabel wäre, müssten viele Änderungen vorgenommen werden, wodurch der Preis deutlich steigen würde. Andererseits sind für die Frischkost zahlreiche Voraussetzungen meist nicht erfüllt und in Deutschland auch nicht erfüllbar. Es fehlen insbesondere Küchenfachkräfte, die für dieses System sehr gut qualifiziert sein müssen. Die Zahl der Koch-Lehrlinge geht aber seit Jahrzehnten kontinuierlich zurück und die Abbrecherquote ist sehr hoch (60 %)[2]. Woher sollen also die nötigen Küchenfachkräfte kommen? Außerdem ist der Investitions- und Raumbedarf bei dieser Kostform am höchsten. Die nötigen Finanzmittel, vom Staat subventioniert, fehlen ebenfalls und müssten über die Essenspreis reingeholt werden, was wegen der starken Preissensibilität nicht gelingen kann. Obwohl die fehlenden Voraussetzungen bekannt sind, wird an diesen Systemen festgehalten.
  • Eine wesentliche Anforderung an jede Verpflegung ist ein umfassendes Hygiene-Konzept. Wie z.B. in einer Umfrage an Gymnasien in NRW ermittelt werden konnte, hatte etwa die Hälfte kein solches Konzept vorzuweisen. Die Mensen in diesen Schulen müssten daher geschlossen werden, was aber nicht geschah.
  • Der Staat müsste schlechte Systeme der Schulverpflegung durch gute ersetzen. Das geht nur mit einem geeigneten Q-Standard sowie einer darauf basierenden Zertifizierung, wobei alle wesentlichen Aspekte der Schulverpflegung jährlich überprüft werden müssten. Es gibt zwar offizielle Q-Standards für die Schulverpflegung[3], doch deren Einhaltung ist freiwillig! Außerdem reicht der Umfang dieser Q-Standards nicht aus, der im Übrigen diverse Schwächen aufweist. Der Staat lässt also seit Jahrzehnten eine insuffiziente Schulverpflegung gewähren, obwohl diese mit einer verpflichtenden Zertifizierung schon längst hätte beseitigt werden können.
  • Hinzu kommt, dass es in deutschen Schulen keine Verzehrspflicht gibt, weshalb in den weiterführenden Schulen oft nur 10 % und weniger der Schüler am Essen teilnehmen. Diese niedrige Beteiligung erhöht die Vollkosten für ein Essen bis auf 10 €[4]. Welche Eltern können sich das leisten? Bei einer Verzehrspflicht mit hoher Essensteilnahme könnten die Preise durch niedrige Fixkosten hingegen stark reduziert werden.

Was müsste aus Ihrer Sicht dringend geschehen, damit flächendeckend eine gesunde und nachhaltige Schulverpflegung zu erschwinglichen Kosten angeboten werden kann?

Die notwendigen Maßnahmen, um die gravierendsten Mängel in der Schulverpflegung zu beheben, sind zwar sehr herausfordernd, wären aber mit unserem Konzept[5] mittelfristig umsetzbar.

Zunächst müsste die Zertifizierungspflicht mit einem hinreichenden Prüfkatalog eingeführt werden. Eine solche Zertifizierung mit jährlichen Folgeprüfungen könnte ein dauerhaft hohes Niveau der Schulverpflegung sicherstellen. Dies schließt v.a. die gesundheitlichen und ökologischen Aspekte ein. Hierbei würde aber auch die sensorische Qualität des Essens geprüft. Die Hochschule Niederrhein hat ein solches Konzept schon vor 20 Jahren entwickelt. Es wird aktuell vom TÜV Rheinland umgesetzt[6] und könnte in relativ kurzer Zeit in ganz Deutschland eingeführt werden, wobei pro Essen nur ein Cent (!) Mehrkosten anfielen. Weder an der Finanzierung noch an den Prüfkapazitäten würde die Zertifizierung scheitern.

Dann müssten alle Anstrengungen auf die Einführung der für Deutschland am besten geeigneten Verpflegungssysteme gelegt werden. Das sind die temperaturentkoppelten Systeme. „Cook & Chill“ oder „Cook & Freeze“ sind solche Verfahren, bei denen das Essen zentral zubereitet und dann schockgekühlt wird. An der Schule braucht das Essen nur noch erwärmt zu werden. Die Qualität dieser Gerichte ist in jeder Hinsicht mit der Frischkost vergleichbar. Die Nachteile der Frischkost entfallen hier allerdings. Um diese Einführung zu erreichen, müssten alle Kräfte gebündelt werden, wozu z.B. auch die Vernetzungsstellen gehören.

Mit diesen beiden wichtigsten Maßnahmen kommt es automatisch im Laufe der Jahre zu einer Verbesserung der Schulverpflegung. Ein dauerhaft hohes Niveau ergibt sich aus den regelmäßigen Audits, die im Rahmen der Zertifizierung durchgeführt werden. Es bedarf also keiner Appelle seitens des Staates und keiner umfangreichen Aktivitäten durch die Schule selbst. Das System optimiert sich ständig selbst, ist extrem billig und absolut zuverlässig.

Gibt es Länder, in denen die Situation deutlich besser ist und die sozusagen als Modell dienen könnten?

Es gibt viele Länder, die ein besseres Konzept als Deutschland entwickelt haben und praktizieren. Zu nennen ist insbesondere Japan, das bereits nach dem Zweiten Weltkrieg damit begonnen hat, ein fast lückenloses Frischkostsystem landesweit aufzubauen. Dies nachzuahmen würde in Deutschland sehr lange dauern. Daher bietet sich für Deutschland ein temperaturentkoppeltes System an, das zu ähnlich guten Ergebnissen führen würde und schneller umsetzbar wäre.

Sie plädieren für eine Verzehrspflicht. Wäre das Schulessen dann Teil des Stundenplans?

Eine Verzehrspflicht sollte erst dann eingeführt werden, wenn die Zentralküche und die Schule zertifiziert wurden. Somit wäre auch eine gute sensorische Qualität sichergestellt. In Japan gibt es die Verzehrspflicht schon seit langem, ohne dass sich jemand daran stört. Im Rahmen des Ernährungsunterrichts nehmen die Schüler am Essen teil. Das heißt aber nicht, dass die Schüler zum Essen gezwungen werden, wenn es ihnen nicht schmeckt. In Japan wird erfolgreich eine Salamitaktik angewandt, bei der ein Schüler wenigstens etwas von Speisen probieren muss, die ihm nicht schmecken. Im Laufe der Zeit erweitert sich so das Akzeptanzspektrum, was eine vielfältigere und somit auch gesündere Ernährungsweise bedeutet.

Gibt es Berechnungen, wie teuer eine kostenlose Schulverpflegung für alle wäre?

Ja, die gibt es. Die sog. Vollkosten hängen von verschiedenen Faktoren ab, insbesondere von der Teilnehmerzahl. Zusammengefasst kann man heute von Vollkosten (inkl. eines Gewinns) von ca. 6 € pro Essen ausgehen. Bei 3,2 Mio Schülern[7] und einer Essensteilnahme von i.D. 30 % entstünden in Deutschland Gesamtkosten von ca. 1-1,5 Mrd. Euro. Diese Gesamtkosten entsprechen nur ca. 10% der Subventionierung klimaschädlicher Dienstwagen in Deutschland[8]. Dies zeigt, wo die Schulverpflegung auf der Prioritätenliste deutscher Politik steht.

Was wäre zu tun?

Die Schulverpflegung darf nicht länger ein Mauerblümchen-Dasein in der Politik fristen, sondern müsste zur Chefsache gemacht werden. Dabei muss auch endlich die qualitätshemmende Preisfixierung zugunsten klar definierter und verbindlicher Qualitätskriterien aufgegeben werden. Nicht zuletzt sollte klar sein, dass Appelle zur Freiwilligkeit von Qualitätsmaßnahmen wertlos sind und daher durch eine Zertifizierungspflicht ersetzt werden müssten.


[1] (Hrsg.): 14. Warlich Druck, Meckenheim, 2020, 473 S., hier: Kap. 1.4, S. 78ff

[2] Peinelt, Gemüth (2016 bzw. 2020): Produktionssysteme in der GG. (S. 18). https://ewd-gastro.jimdo.com/speisenangebote/produktionssysteme/

[3] DGE: Qualitätsstandards für Kitas, Ganztagsschulen, Betriebe, Unternehmen, stationäre Einrichtungen, Essen auf Rädern und Rehabilitationskliniken, Bonn 2007-2015. https://www.dge.de/gv/dge-qualitaetsstandards/?L=0

[4] Peinelt (2015): Kosten der Verpflegungssysteme. https://ewd-gastro.jimdo.com/schulverpflegung/kosten-fuer-mittagessen/

[5] Peinelt (2023): 7-Punkte-Konzept für die Schulverpflegung. https://ewd-gastro.jimdo.com/schulverpflegung/7-punkte-konzept/

[6] Peinelt (2021): Offizielles Konzept „Ausgezeichnete Gemeinschaftsgastronomie“. https://ewd-gastro.jimdo.com/zertifizierung/ausgezeichnete-gg/

[7] NQZ (Nationales Qualitätszentrum für Ernährung in Kitas und Schulen): Zahlen und Fakten zur Schulverpflegung. https://www.nqz.de/schule/zahlen-fakten/keyword=Zwischenmahlzeiten

[8] DUH: Deutsche Umwelthilfe fordert sofortigen Stopp der Subventionierung von klimaschädlichen Dienstwagen mit Verbrennungsmotor. 5.10.2020. https://www.presseportal.de/pm/22521/4725274

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