Seit Wochen protestieren Bäuerinnen und Bauern gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung und für mehr gesellschaftliche Wertschätzung. Angesichts der Proteste hat Angela Merkel heute Vertreter der Agrarbranche zum Agrargipfel ins Kanzleramt eingeladen, um mit ihnen über die Zukunft der Landwirtschaft zu diskutieren.
100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft
Von
Wilfried Bommert und Manfred Linz
Die Wirtschaftsberatungsgesellschaft Boston Consulting Group hat sich die deutsche Landwirtschaft vorgenommen. Unter dem Titel: „Die Zukunft der deutschen Landwirtschaft nachhaltig sichern – Denkanstöße und Szenarien für ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit“ greift sie in die gegenwärtig so lebhafte Diskussion um den Kurs der Agrarpolitik in Deutschland ein. Und bescheinigt der gegenwärtigen Agrarpolitik die skandalöse Missachtung aller Prinzipen der Ökonomie. Nach ihrer Rechnung stehen Kosten von 100 Milliarden Euro nur einem landwirtschaftlichen Produktionswert von 20 Milliarden Euro gegenüber. Sie rät zu drastischen Reformen, und scheut sich nicht, auch mächtigen Interessen auf die Füße zu treten.
Das
Besondere: Für Diagnose und Therapie wählt sie einen Ansatz, der ihr die
Aufmerksamkeit vieler sichern kann, die mit einer ethischen oder
zukunftsgefährdenden Argumentation nicht leicht zu erreichen sind. Sie nimmt
ihren Ausgangspunkt nämlich bei einer gesamtgesellschaftlichen Gewinn- und
Verlustrechnung, also beim Geld. Sie fragt, zu welchen Kosten die deutsche
Landwirtschaft zwischen Boden- und Nordsee, Oder und Rhein gegenwärtig wirklich
produziert, sie analysiert die wahren Kosten der intensiven Landwirtschaft. Dabei
werden Positionen sichtbar, die in der Buchhaltung der Landwirte und in den
Preisen für ihre Produkte bisher keine Geltung finden.
Verantwortlich
dafür ist die Art, wie die intensive Landwirtschaft hierzulande betrieben wird.
Ihre Kostenpositionen klopfen die Prüfer einzeln ab. Synthetischer Dünger und
Pestizide schädigen Bodenleben und Grundwasser, großflächige Monokulturen lassen
die Böden ein leichtes Opfer für Wind und Wasser werden und tragen den Humus ab.
Diese Wirtschaftsweise hinterlässt verdeckte Kosten, die die Wirtschaftsprüfer
der Boston Consulting auf 40 Milliarden Euro pro Jahr schätzen.
Ähnliches
gilt für den massiven Verlust an Artenvielfalt, die Auswirkung der
Intensivlandwirtschaft auf das Klima, den Wasserhaushalt, die Luftqualität und
den Zustand von Kultur- und Erholungslandschaften. Auch hier entstehen
verdeckte Kosten, die noch einmal mit jährlich
50 Milliarden Euro zu Buche schlagen.
Rechnet
man die Subventionen hinzu, die jedes Jahr aus den Brüsseler Töpfen und dem
Bundeshaushalt für die Landwirtschaft ausgegeben werden, dann steigen die
Kosten der deutschen Landwirtschaft auf 100 Milliarden Euro pro Jahr. Ihnen
steht ein Produktionswert für Getreide, Kartoffeln, Milch und Fleisch von nur 20
Milliarden Euro gegenüber. Die bisher nicht eingerechneten Kosten der deutschen
Landwirtschaft liegen also um den Faktor fünf höher als der Wert ihrer Waren –
pro Kopf jährlich 1.200 Euro. Wirtschaftlich gesehen ist das eine
Bankrotterklärung für die landwirtschaftlichen Unternehmen. Und nicht anders
für die Politik die diese Bilanz seit
Jahrzehnten deckt.
Die Kur, die Boston Consulting als
Wirtschaftsberatungsgesellschaft der Industrie der Landwirtschaft vorschlägt, entspricht den Regeln jeder
Unternehmensberatung: verdeckte Kosten aufdecken, Wirtschaftlichkeit durch
Kostensenkung erhöhen. Konkret geht es um eine Minimierungsstrategie. Dabei
zeigt sich, dass einzelne Maßnahmen nur geringe Entlastung bringen, wie die
Tierhaltung an die Fläche binden, Zwischenfrüchte, Untersaaten, Leguminosen
anbauen oder Brachland ruhen lassen. Auch der Verzicht auf Dünger und
Agrarchemie bringt nicht mehr als 15 % an
Kostensenkung.
Was
wirklich hilft, sind grundsätzliche Weichenstellungen, radikale Veränderungen. Die Berater halten vier Szenarien für
bedenkenswert.
- Die Landwirtschaft gibt ihre Exportambitionen auf und produziert nur noch für den deutschen Markt. Dies würde dazu führen, das die Zahl der Masttiere deutlich gesenkt werden könnte, die Umweltschäden durch Importfutter und Gülle ebenfalls. Fast die Hälfte des gegenwärtig in Deutschland erzeugten Fleisches wird für den Export produziert und verursacht allein rund 40 Prozent der versteckten Kosten der deutschen Landwirtschaft.
- Auch
bei den Konsumentinnen und Konsumenten sieht Boston Consulting Potential: Würde
der Fleischkonsum entsprechend den Empfehlungen der internationalen EAT-Lancet-Kommission
auf ein Viertel des heutigen Verbrauches sinken, könnten 25 Prozent der
versteckten Kosten der Landwirtschaft aus der Welt geschafft werden.
- Kann das Wegwerfen von Nahrungsmittel ganz ausgemerzt werden, sind noch einmal 15 Prozent an Einsparung zu erwarten.
- Das größte Potential aber liegt in der Kombination der Varianten.
Wenn Dünger und Pestizide stark vermindert würden, wenn die deutsche Landwirtschaft ihre Weltmarktambitionen aufgeben und nur noch Fleisch für den Inlandverbrauch produzieren würde, wenn Lebensmittelverschwendung auf Null gebracht und die Kultur des Sonntagsbraten wieder Einzug halten dürfte, dann, so lautet das Urteil der Boston Consultants, könnten insgesamt 80 Prozent der bisher versteckten Kosten in der deutschen Landwirtschaft vermieden werden.
20
Prozent blieben übrig als „unvermeidbarer“ Rest. Die entsprächen dann dem
tatsächlichen Wert der Produktion. Und damit wäre die Mission der Berater
beendet. Ein Erfolg wäre sie dennoch nicht. Zwar machen die vorgeschlagenen
Operationen einen erheblichen Schritt hin auf mehr Ökologie. Gleichzeitig wird aber
erkennbar, dass es sich dabei nur um eine Reparatur des derzeitigen Agrarsystems
handelt. Eine grundlegende Wende zur Nachhaltigkeit wird nicht in den Blick genommen.
Und so bleiben die Hauptnachteile des Systems für die Bauern auch bestehen. Sie
liegen im dramatischen Preisdruck, den das herrschende System immer wieder
erzeugt. Und der entsteht aus den Marktstrukturen, denen die Bauern ausgeliefert
sind: Märkte für gesichtslose Massenware; Kleinproduzent gegen Monopole in
Verarbeitung und Handel.
Solange
es nicht gelingt den Bauern und ihren Produkten wieder einen Wert zu geben, der
auf Wertschätzung beruht, werden sie keine besseren Preise erwarten können. Wertschätzung
für sie als Menschen, für ihre Arbeit und damit auch für das, was sie mit Säen
und Ernten. Diese Wertschätzung lässt sich nicht durch Kostenminimierung
schaffen. Sie gedeiht vor allem dort, wo Nähe entstehen kann, an runden Tischen
etwa, an denen Bauern und Bürger darüber nachdenken, wie die Region und ihre
Lebensmittel wieder in Wert gesetzt werden können und sie so entstehen, das die
Kosten nicht versteckt werden müssen, sondern vom Preis abgedeckt werden. Das
wären die wahren Preise. Die liegen dann höher, als das was heute in den
Supermärkten angepriesen wird, aber enthalten das, was den konventionellen
Produkten heute fehlt: Enkeltauglichkeit.
Solche
runden Tische sind keine reine Utopie; in mehr als 20 Städten der Republik
arbeiten sie schon, eine große Koalition der Zivilgesellschaft auf den Weg zu neuen
wertschätzenden Ernährungskonzepten. Unter den Koordinaten: regional,
ökologisch und fair beginnt dort eine ökologische Transformation. Nur sie kann
die zwingend notwendige Resilienz erreichen, die Anpassungs- und
Widerstandsfähigkeit unseres Ernährungssystems, ohne die die Herausforderungen
der Klimakrise nicht zu meistern sind.