Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln

Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln

Die Forschungsstrategie „Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln“ der Deutschen Agrarforschungsallianz zeigt, wie die Bedingungen für Honig- und Wildbienen und das Zusammenwirken von Bienen, Imkerei und Landwirtschaft verbessert werden können. Damit soll zum Erhalt der biologischen Vielfalt, zur Verbesserung der Erträge durch optimierte Bestäubungsleistung und zur Resilienz von Agrarökosystemen und landwirtschaftlichen Produktionssystemen beigetragen werden.

Die Strategie formuliert drei Forschungsfelder:

1. Förderung der Bienen-Vitalität (Gesundheit, Leistung, Fitness)

2. Agrarlandschaften und Anbausysteme entwickeln

3. Wechselwirkungen zwischen landwirtschaftlichen Praktiken und Bienen verstehen, um Synergien zu erreichen

Die Empfehlungen beruhen unter anderem auf den Ergebnissen zweier Workshops, an denen insgesamt rund 150 Personen aus Landwirtschaft, Imkerei, Naturschutz, Verwaltung, Wissenschaft und Politik teilgenommen haben. In diesen Veranstaltungen wurden Ist- und Zielzustände verglichen sowie Wege und Forschungsbedarfe für ein synergistisches Zusammenwirken von Bienen und Landwirtschaft diskutiert.

Die Strategie formuliert drei zentrale Forschungsfelder. Dabei steht die Vitalität der Wild- und Honigbienen an erster Stelle, weil diese ihre Rolle im Agrarökosystem bzw. in der Imkerei nur ausfüllen können, wenn sie gesund und leistungsfähig sind. Das zweite Forschungsfeld widmet sich der Frage, wie die Landschaftsstrukturen sowie die Nutzungs- und Bewirtschaftungsformen der Landschaft die Häufigkeit, Diversität und Vitalität der Bienen beeinflussen. Das dritte Forschungsfeld nimmt die Wechselwirkungen zwischen Landwirtschaft, Kulturlandschaft und Bienen in den Blick.

Die Forschung, so eine weitere Forderung, muss flankiert werden durch geeignete Forschungs- und Förderungsstrukturen und eine bessere Kommunikationsstruktur zwischen Forschung, Landwirtschaft, Berufs- und Hobbyimkerei, Amtstierärzten, Beratung und Kommunen. Da neue Erkenntnisse zu Bienengesundheit gegenwärtig über viele verschiedene Einrichtungen, Verbände und Einzelpersonen verbreitet werden müssen, sollte eine zentrale Plattform für Daten-, Wissens- und Kommunikationsmanagement eingerichtet werden.

Ohne eine passende politische Gestaltung kann das Zusammenwirken von Bienen und Landwirtschaft jedoch nicht längerfristig erfolgreich sein. Im marktwirtschaftlichen Wettbewerb können es sich Landwirte in der Regel nicht leisten, ihre Produktionssysteme „betriebswirtschaftlich suboptimal“ auszurichten, indem sie unentgeltlich öffentliche Leistungen erbringen.

Die Politik steht somit vor der Herausforderung, den agrar- und ordnungspolitischen Rahmen so zu entwickeln, dass bienenförderndes Handeln für die Landwirte im betriebswirtschaftlichen Interesse liegt oder zumindest keinen Wettbewerbsnachteil darstellt. Dazu müssen geeignete Maßnahmen entwickelt werden, die mit vertretbarem Aufwand rechtssicher kontrollierbar, regional steuerbar und kulturspezifisch ausgearbeitet sind und mögliche Zielkonflikte mit anderen agrarpolitischen Zielen minimieren.

Die DAFA ist eine Gemeinschaftsinitiative der deutschen Agrar- und Ernährungsforschung. Ihr gehören über 60 deutsche Universitäten, Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sowie Bundes- und Landesforschungsinstitute an. Das Netzwerk verfolgt das Ziel, die Leistungsfähigkeit sowie die nationale und internationale Sichtbarkeit der deutschen Agrar- und Ernährungsforschung zu verbessern und für die Praxis wirksam zu machen.

Die DAFA-Strategie „Bienen und Landwirtschaft: Synergien erforschen, Lösungen entwickeln“ kann hier als PDF in deutscher Sprache heruntergeladen werden und hier in der englischen Fassung.

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Ökologische Landwirtschaft und SDGs: Bio ist Teil der Lösung

Ökologische Landwirtschaft und SDGs: Bio ist Teil der Lösung

Da die Weltbevölkerung bis 2050 voraussichtlich auf 9,7 Milliarden steigen wird, wird die Deckung des künftigen Nahrungsmittelbedarfs als große globale Herausforderung angesehen. Um zu verhindern, dass Nahrungsmittel für eine wachsende Bevölkerung knapp werden, müssen sowohl der Klimawandel als auch der weltweite Konsum angepackt werden – hier sind vor allem Maßnahmen zur Erhöhung des weltweiten Angebots und der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln gefragt. Nach Angaben der FAO müssen diese Maßnahmen darauf abzielen, „mehr mit weniger zu produzieren, den Schwerpunkt auf Qualität und Vielfalt zu legen, Produktivität mit Nachhaltigkeit zu verbinden und auf die Bedürfnisse der Menschen einzugehen“.

Am 1. Januar 2016 haben die Vereinten Nationen und all ihre Mitgliedstaaten die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet, ein auf 17 Nachhaltigkeitszielen basierender Aktionsplan zur Bewältigung der wichtigsten globalen Herausforderungen der kommenden 15 Jahre. Die Lösung dieser komplexen Herausforderungen und das Erreichen der SDGs erfordern einen ganzheitlichen sowie transformativen Ansatz, der auf den Grundsätzen der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit aufbaut.

Der Bericht „Ökologische Landwirtschaft und die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung“ befasst sich eingehender mit der vorhandenen Literatur, wie eine nachhaltige Landwirtschaft zur Erreichung mehrerer Nachhaltigkeitsziele beitragen kann – genauer gesagt: wie der ökologische Landbau die Erreichung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung unterstützen kann. Darüber hinaus wird sich auch Bezug auf die negativen Auswirkungen von Agrochemikalien auf die SDGs genommen.

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Die Welt ernähren, ohne den Planeten zu schädigen, ist möglich

Die Welt ernähren, ohne den Planeten zu schädigen, ist möglich

Fast die Hälfte der derzeitigen Nahrungsmittelproduktion ist schädlich für unseren Planeten – sie führt zum Verlust biologischer Vielfalt, setzt den Ökosystemen zu und verschärft die Wasserknappheit. Kann das gutgehen, angesichts einer weiter wachsenden Weltbevölkerung? Eine neue Studie unter der Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) untersucht umfassende Lösungsvorschläge, wie man 10 Milliarden Menschen innerhalb der Belastungsgrenzen unseres Planeten ernähren kann. Eine angemessene und gesunde Ernährung für jeden Menschen bei weitgehend intakter Biosphäre erfordert nicht weniger als eine technologische und soziokulturelle Kehrtwende. Dazu gehören etwa die konsequente Umsetzung ressourcenschonender landwirtschaftlicher Methoden, die Reduzierung von Lebensmittelverlusten und schließlich Änderungen im Speiseplan. Die Veröffentlichung der Studie trifft zusammen mit dem Beginn des Weltwirtschaftsforums in Davos und mit der Grünen Woche in Berlin.

„Wenn man sich den Zustand des Planeten Erde und den Einfluss der aktuellen globalen Landwirtschaftspraxis auf ihn ansieht, gibt es viel Grund zur Sorge – aber auch Grund zur Hoffnung, sofern wir sehr bald entschlossenes Handeln sehen“, sagt Dieter Gerten, Leitautor vom PIK und Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. „Derzeit geschieht fast die Hälfte der weltweiten Nahrungsmittelproduktion auf Kosten der planetaren Belastungsgrenzen der Erde. Wir widmen zu viel Land der Tierhaltung und den Nutzpflanzen, düngen zu stark und bewässern übermäßig. Um dieses Problem angesichts einer noch immer wachsenden Weltbevölkerung zu lösen, müssen wir miteinander überdenken, wie wir Lebensmittel produzieren. Die gute Nachricht ist, dass solche Transformationen es ermöglichen, ausreichend Nahrung für bis zu 10 Milliarden Menschen bereitzustellen – das zeigt unsere Forschung.“

Die Forscher stellen die Frage, wie viele Menschen unter Einhaltung eines strengen Standards ökologischer Nachhaltigkeit weltweit ernährt werden könnten. Diese Umweltkapazitäten werden in Form mehrerer planetarer Belastungsgrenzen definiert – wissenschaftlich definierter Höchstwerte für menschliche Eingriffe in zentrale Prozesse des Planeten. In der vorliegenden Studie werden vier der neun planetaren Grenzen erfasst, die für die Landwirtschaft relevant sind: die Integrität der Biosphäre (intakte Artenvielfalt und intakte Ökosysteme), die Veränderung der Landnutzung, die Süßwassernutzung und die Nutzung von Kunstdünger. Basierend auf einem ausgefeilten Computermodell werden die Auswirkungen der Nahrungsmittelproduktion auf diese Grenzen mit einem nie dagewesenen Detailgrad hinsichtlich der räumlichen Auflösung und der Darstellung der Prozesse und auch auf den gesamten Planeten bezogen untersucht. Diese Analyse zeigt auf, wo und wie viele Grenzen durch die derzeitige Nahrungsmittelproduktion verletzt werden und auf welche Weise diese Entwicklung durch Einführung nachhaltigerer Formen der Landwirtschaft rückgängig gemacht werden könnte.

Global differenziertes Bild: In manchen Regionen wäre weniger mehr

Das ermutigende Ergebnis ist, dass theoretisch 10 Milliarden Menschen ernährt werden können, ohne das Erdsystem zu gefährden. Das führt zu sehr interessanten Schlussfolgerungen, wie Johan Rockström, Direktor des PIK, betont: „Wir stellen fest, dass die Landwirtschaft in vielen Regionen derzeit zu viel Wasser, Land oder Dünger verbraucht. Die Produktion in diesen Regionen sollte daher mit ökologischer Nachhaltigkeit in Einklang gebracht werden. In der Tat gibt es enorme Möglichkeiten, die landwirtschaftliche Produktion in diesen und anderen Regionen auf nachhaltige Weise zu steigern. Das gilt zum Beispiel für weite Teile Subsahara-Afrikas, wo ein effizienteres Wasser- und Nährstoffmanagement die Erträge stark verbessern könnte.“

Als positiver Nebeneffekt kann eine nachhaltigere Landwirtschaft die allgemeine Klimaresilienz erhöhen und gleichzeitig die globale Erwärmung begrenzen. An anderen Orten ist die Landwirtschaft jedoch so weit von den lokalen und planetaren Belastungsgrenzen entfernt, dass selbst nachhaltigere Systeme den Druck auf die Umwelt nicht vollständig ausgleichen könnten, wie etwa in Teilen des Nahen Ostens, Indonesiens und teilweise in Mitteleuropa. So wird der Welthandel auch nach der Neuausrichtung der landwirtschaftlichen Produktion ein Schlüsselelement einer nachhaltig ernährten Welt bleiben.

Für Planet und Gesundheit: Ernährungsumstellungen notwendig

Auch die Seite der Konsumentinnen und Konsumenten ist nicht zu vergessen. Weitreichende Ernährungsumstellungen scheinen unumgänglich zu sein, um das Ernährungssystem wirklich nachhaltig zu machen. Beispielsweise müssten angesichts des steigenden Fleischkonsums in China Teile der tierischen Proteine durch mehr Hülsenfrüchte und anderes Gemüse ersetzt werden. „Veränderungen auf dem täglichen Speiseplan scheinen zunächst vielleicht schwer zu schlucken. Aber auf lange Sicht wird eine Ernährungsumstellung hin zu einem nachhaltigeren Mix auf dem Teller nicht nur dem Planeten, sondern auch der Gesundheit der Menschen zugutekommen“, ergänzt Vera Heck vom PIK. Ein weiterer entscheidender Faktor ist die Reduzierung der Nahrungsmittelverluste. So baut die vorliegende Studie auf Zahlen, die auch der jüngste IPCC-Sonderbericht zur Landnutzung vorgelegt hat und wonach derzeit bis zu 30 Prozent aller produzierten Lebensmittel durch Verschwendung verloren gehen. „Diese Situation erfordert eindeutig entschlossene politische Maßnahmen, um Anreize sowohl auf Seiten der Produzentinnen als auch der Verbraucher zu setzen“, so Heck weiter.

Die vielleicht sensibelste und herausforderndste Konsequenz der Studie betrifft das Landnutzung. „Alles, was mit dem Land zu tun hat, ist in der Praxis mitunter komplex und umstritten, weil die Lebensgrundlagen und Perspektiven der Menschen davon abhängen. Der Übergang zu einer nachhaltigeren Landnutzung und -bewirtschaftung ist daher eine anspruchsvolle Herausforderung für die Politik. Hierbei ist es entscheidend, dass die Menschen in den betroffenen Regionen klare Vorteile für sich erkennen können. Dann besteht eine echte Chance, dass die Unterstützung für diese Veränderungen schnell genug wächst, um das Erdsystem zu stabilisieren“, sagt Wolfgang Lucht, Ko-Vorsitzender des Fachbereichs Erdsystemanalyse am PIK und Mitautor der Studie.

Die Studie „Feeding ten billion people is possible within four terrestrial planetary boundaries“ finden Sie hier.

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Bericht 2020: Globale Agrarwirtschaft und Menschenrechte

Bericht 2020: Globale Agrarwirtschaft und Menschenrechte

Ernährungsindustrie und Landwirtschaft gehören zu den Sektoren, in denen es weltweit am häufigsten zu Menschenrechtsverletzungen kommt. Betroffen sind Produzent*innen, Konsument*innen sowie Anwohner*innen entlang der gesamten Wertschöpfungskette. In einer gemeinsamen Studie haben Germanwatch und Misereor Menschenrechtsverletzungen im Agrarsektor dokumentiert und die menschenrechtliche Sorgfalt deutscher Unternehmen analysiert. Demnach erfüllt keins der 15 untersuchten Unternehmen in ausreichendem Maße die Anforderungen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.

Laut Studie bestehen vor allem für die untersuchten fünf Geflügelfleischproduzenten erhebliche menschenrechtliche Risiken:

  • Sojaanbau für Futtermittel führe vielfach zu Landvertreibungen und zu giftigem Pestizideinsatz in Südamerika.
  • Der massive Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung verstärke die Nachfrage in den Antibiotika-Produktionsländern Indien und China. Dies erhöhe das Risiko von Resistenzen dort.
  • Die Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachtbetrieben seien zum Teil menschenverachtend.
  • Exporte von Geflügelteilen aus der EU bedrohten in Westafrika das wirtschaftliche Überleben einheimischer Produzenten und gefährdeten ihre Lebensgrundlage.

Kritisch bewertet die Studie auch die Rolle der Bundesregierung. In der Handelspolitik habe sie es bislang versäumt, die Rolle von Menschenrechten zu stärken. Zugleich sind deutsche Unternehmen bislang nicht gesetzlich verpflichtet, die Menschenrechte bei ihrer weltweiten Geschäftstätigkeit zu achten – anders als in einigen europäischen Nachbarländern. Allerdings haben aufgrund des schlechten Abschneidens deutscher Unternehmen beim Monitoring ihrer menschenrechtlichen Sorgfalt die Bundesminister für Arbeit und Soziales sowie für Entwicklung im Dezember 2019 Eckpunkte für ein deutsches Lieferkettengesetz angekündigt.

Zudem gibt es in Deutschland noch keinen ausreichenden Zugang zu Abhilfe für Betroffene von Menschenrechtsverletzungen. Grund ist einerseits die mangelnde Grundlage im deutschen Recht, andererseits gibt es viele prozessuale Hürden. Aber auch das außergerichtliche staatliche Beschwerdeverfahren über die Nationale Kontaktstelle für die OECD-Leitsätze weist erhebliche Mängel auf.

Den Bericht „Globale Agrarwirtschaft und Menschenrechte“ können Sie hier als PDF herunterladen.

IWEBericht 2020: Globale Agrarwirtschaft und Menschenrechte
Landwirtschaft am Scheideweg

Landwirtschaft am Scheideweg

Der Artikel von IWE-Vorstand Wilfried Bommert erschien in der Zeitschrift Ökologie & Landbau.

Auf dem Weg zu einer Ökologisierung des Agrar- und Ernährungssystems gibt es einige Hemmnisse. Diese sind oft in überkommenen Strukturen begründet. Kann ein Systemwechsel also überhaupt gelingen? Für Wilfried Bommert kommt es auf die kritische Masse an, damit die Vision „100% Bio“ Realität wird.

Hat Bio das Potenzial, die Welt zu ernähren? Un­möglich, urteilt die Allianz der industriellen In­tensivlandwirtschaft. Dagegen sprächen allein schon die Erträge, bei einem Minus von 25 Prozent könne der Hunger der zukünftig zehn oder zwölf Milliarden Erdbewoh­ner nicht gestillt werden. Dabei wird stillschweigend übergan­gen, dass das Potenzial des ökologischen Wegs bisher kaum ausgeschöpft ist. Die Vielfalt an ökologischen Systemen der weltweiten Landwirtschaft ist groß, weit größer als die Flä­chen, die nach den Kriterien der Bioanbauverbände zerti­fiziert und bewirtschaftet werden. Und die Produktivität hält jedem Vergleich stand, wenn man nicht nur Hektarerträge, sondern auch Gewinne an Bodenfruchtbarkeit, Wasserhalte­vermögen, Artenvielfalt, Pestizidfreiheit und Resilienz gegenüber Klimaextremen, also die gesamten Ökosystemleistun­gen, berücksichtigt.

Potenzial zur Ernährung der Welt

Eines der bedeutendsten agrarökologischen Systeme findet sich im Reisanbau. Es setzt auf Extensivierung und bringt dennoch mehr Ertrag hervor. Obwohl es ein extensives Sys­tem ist, erhielt es irreführender Weise den Namen „System of Rice Intensification“. Es verzichtet auf synthetischen Stickstoff und Pestizide, verbessert den Boden, verbraucht nur die Hälf­te des sonst üblichen Wassers und trägt zur Entlastung des Klimas bei, indem es die Nassphase des Reisanbaus, in der Methan entsteht, weitgehend ausfallen lässt. Sein Erfolg be­ruht auf der Erweiterung der Pflanzabstände der Reispflan­zen, die so mehr Wurzelraum erhalten und mehr Triebe bilden können. Auf diese Weise erhöht sich der Ertrag pro Hektar im Schnitt von zwei auf acht Tonnen (Uphoff, 2014). Mittlerweile haben rund fünf Millionen Bauern in über 50 Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika das System übernommen. In China und Indien wird es offiziell von den Behörden gefördert.

Megastädte, die sich ökologisch (selbst) versorgen

Eine besondere Herausforderung für die Zukunft stellen die schnell wachsenden Megastädte dar, wie sie in Afrika, Asien und Lateinamerika entstehen. Wie können sie versorgt wer­den? Südamerika, wo die Städtebildung am weitesten fortge­schritten ist, zeigt mögliche Wege. In der Stadt Rosario in Argentinien schuf die Stadtregierung ein Programm zur Un­terstützung landloser Landarbeiter, die aus dem Hinterland verdrängt wurden, und armer Städter. Sie sollten ihr eigenes Gemüse auf Brachland in der Stadt anbauen, um sich selbst zu versorgen. Die Initiative wurde unter dem Namen „Pro­ grama de Agricultura Urbana (PAU)“ bekannt. Sie führte zu einem Boom städtischer Landwirtschaft, aus dem neue lokale Märkte und Verarbeitungsbetriebe entstanden, die heute ihr Geld damit verdienen, dass sie organisch angebautes Obst und Gemüse, aber auch verarbeitete Produkte an die wohl­habendere Stadtbevölkerung verkaufen. In Brasilien stellte das Zero­Hunger­Programm die Kleinbauern in städtischen Zentren in den Mittelpunkt. Ziel war es, ökologische und da­mit preisgünstige Produkte zu fördern und mit ihnen die ärmere Bevölkerung der Großstädte zu versorgen. Heute wirtschaften 4,3 Millionen brasilianische Kleinbauern nach ökologischen Prinzipien in den großen Städten des Lan­ des und in ihrem Umkreis.

Auf Kuba zeigt das Beispiel Ha­vannas, wie eine Stadt ihre Selbstversorgung steigern kann. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion musste Kuba eine neue Basis für die eigene Ernährung entwickeln. So wur­den die Brachflächen und Grünanlagen der Städte zu Gärten mit ökologischer Bewirtschaftung, die bei Gemüse mehr als die Hälfte des Bedarfs decken (Koont, 2011). Die hier vorgestellten Beispiele bilden noch keine abgesicherte Strategie zur Versorgung der zukünftigen Megastädte. Sie zeigen jedoch, dass die Zivilgesellschaft weltweit schon heute über eine große Spannbreite erfolgreicher ökologischer Syste­me verfügt. Sie bilden die kritische Masse, mit der ein System­wechsel in ökologischer Vielfalt gestaltet werden kann. Dies auch, weil eine intensivierte Bioforschung und -­praxis noch erhebliche Steigerungen der Erträge erwarten lassen – und das nicht nur in den Entwicklungsländern.

Woran eine zügige Umsetzung zu mehr Bio scheitert

In den Industrieländern und so auch in Deutschland ist die ökologische Agrarforschung ein Stiefkind der Forschungs­förderung. Hier liegt ihr Anteil am gesamten landwirtschaft­lichen Forschungsetat des Bundes bei sechs Prozent. Das wa­ren 2017 rund 278 Millionen Euro. Der geringe Stellenwert des Ökolandbaus im Bereich Forschung spiegelt das geringe politische Interesse wider. Das wird sich grundlegend ändern müssen. Die Zuweisung staatlicher Forschungsmittel muss drastisch steigen, bis 2030 mindestens auf 20 Prozent, um ei­ner flächendeckenden Biolandwirtschaft das notwendige Fundament zu geben.

Einer zügigen und flächendeckenden Ökologisierung steht in Deutschland ein Leitbild der Ernährungspolitik entgegen, das in den 1950er­Jahren geprägt wurde und weiter Bestand hat. Es ist das Leitbild der industrialisierten Landwirtschaft, das im Nachkriegsdeutschland entwickelt wurde. Es sollte die Prinzipien der Industrie auf die Landwirtschaft übertragen. Durch den Einsatz von Technik, Chemie, Hochleistungszucht und Spezialisierung sollte die Produktivität massiv erhöht werden; zum einen, um den Hunger der Nachkriegsjahre zu besiegen, zum anderen, um in der Landwirtschaft Arbeits­kräfte für die boomende Industrie freizusetzen. Der Erfolg dieser Strategie, die aus einem engen Zusammenspiel der landwirtschaftlichen Verbände, der vor­ und nachgelagerten Industrien, der Politik und der Verwaltung bestand, trug zu dem bei, was als deutsches „Wirtschaftswunder“ in die Ge­schichte einging.

Diese agroindustrielle Koalition besteht wei­ter, verfolgt weiterhin das Ziel einer umfassenden Indus­trialisierung und zieht gegen eine Ökologisierung der Landwirtschaft in Deutschland zu Felde. Sie schafft bis heute über die europäische Agrarpolitik immer größere Mono­strukturen auf den Äckern und in den Ställen. Ihr Einfluss ist besonders den Konzernen zuzuschreiben, die zu immer grö­ßeren wirtschaftlichen Machtkomplexen heranwuchsen und mittlerweile globale Dimensionen erreicht haben.
Diese ökonomische Machtballung fördert den politischen Einfluss einer vielfältigen Lobby, die das Konzept der inten­siven Landwirtschaft, des globalen Handels und der indus­triellen Verarbeitung von Lebensmitteln in der ganzen EU sichert und verteidigt.

Zu den stabilisierenden Säulen des Systems gehört auch der Deutsche Bauernverband, dessen Vertreter in den Aufsichtsräten der Agrarkonzerne sitzen und in Deutschland bis in die Ausschüsse des Bundestags vordrin­gen konnten. Ein weiteres Hindernis für die Abkehr vom dominierenden Leitbild sind die Bauern selbst und ihre Investitionen. Getrie­ben von Verbandspolitikern, die die globalen Milch-­ und Fleischmärkte als Heilsversprechen ausgaben, wurde in Ge­bäude und Maschinen investiert. Investitionen in Milliarden­höhe, die über Jahre zurückgezahlt werden müssen und nun den Entschluss erschweren oder auch verhindern, neue Wege einzuschlagen.

Wie die Vision Realität werden kann

Existiert vor dem Hintergrund der Macht­ und Interessen­ballung für ein industrielles Agrarsystem überhaupt die Chance für einen Wechsel hin zu einer Ernährung, die öko­logisch und regional orientiert ist? Die grundlegende Öko­logisierung des Agrar­ und Ernährungssystems kann in Eu­ropa nur ein gesamteuropäisches Projekt sein. Da die Politik sich kaum bewegt, wird die Zivilgesellschaft den notwendigen Systemwechsel einleiten müssen. Die Weichen dafür müssen in Brüssel gestellt werden. Aber die Impulse dafür werden von den europäischen Gemeinschaftsstaaten und von ihren Bür­gern gesetzt. Die Energiewende in Deutschland ist ein Beweis dafür, dass eine solche Strategie „von unten“ Erfolg haben kann. Sie zeigt, welche Hebel dafür in Bewegung gesetzt werden müssen: Beispiel geben, Vorbilder schaffen, Märkte entwickeln, politi­sche Koalitionen schmieden, die öffentliche Förderung neu justieren.

Im Zentrum muss eine neue Weichenstellung in der europä­ischen Agrar-­ und Handelspolitik stehen. Ihr Ziel: Kein Euro darf in Zukunft ohne Prüfung seiner ökologischen Wirkung ausgegeben, kein Vertrag ohne Blick auf die Folgen für die Ernährung der Menschen geschlossen werden. Unter den politischen Maßnahmen, mit denen die Europäische Union die Transformation des Ernährungssystems beginnen muss, steht die Umwidmung der Flächenprämie an vorderster Stelle. Flankierend sollte die Zivilgesellschaft die Diskussion über eine ökologische Transformation des Agrarsystems fördern, indem sie Fragen stellt:

  • nach der Sicherheit von Geldanlagen der Bürger in Fonds und Versicherungen, die ihre Gewinne aus dem Geschäft der Intensivlandwirtschaft ziehen,
  • nach der Praxis der Verpachtung von kirchlichem und kommunalem Land – Kirchen und Kommunen als große Landbesitzer müssen bei der Agrarwende vorangehen,
  • nach der öffentlichen Förderung von Bürgerinitiativen, die in deutschen Städten regionale Ernährungskonzepte entwickeln,
  • nach einem Verbot von Antibiotika in der Tierhaltung, wenn sie Multiresistenzen und damit lebensgefährliche Erkrankungen begünstigen,
  • nach einem Verbot von Pestiziden, die als Hauptursache des massiven Insektensterbens identifiziert und dennoch nicht aus dem Verkehr gezogen werden,
  • und schließlich ob Bauern nicht für Fehlinvestitionen in die industrielle Landwirtschaft entschädigt werden sollten, so wie die Kohle­ und Atomindustrie in der Energiewende.

Nur die Entlastung von diesen Verbindlichkeiten wird es den bäuerlichen Betrieben ermöglichen, dem Zwang zum „Weiter so“ zu entkommen und einen ökologischen Neubeginn zu wagen. Ziel all dieser Aktionen muss es sein, ein politisches Klima zu schaffen, das Ökolandbau bis zur Mitte des Jahrhunderts zum Goldstandard der Landwirtschaft erhebt, wie es der Rat für Nachhaltige Entwicklung schon 2011 empfahl. Die „Vision 100 % Bio“ – so kann sie gelingen.

Zum Weiterlesen: Bommert, W., M. Linz (2018): Landwirtschaft am Scheideweg. Nur eine ökologische Landwirtschaft kann zehn Milliarden Menschen ernähren. Eine Streitschrift. Abrufbar unter kurzlink.de/bommert_linz

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The role of artificial intelligence in achieving the Sustainable Development Goals

The role of artificial intelligence in achieving the Sustainable Development Goals

ABSTRACT: The emergence of artificial intelligence (AI) and its progressively wider impact on many sectors requires an assessment of its effect on the achievement of the Sustainable Development Goals. Using a consensus-based expert elicitation process, we find that AI can enable the accomplishment of 134 targets across all the goals, but it may also inhibit 59 targets. However, current research foci overlook important aspects. The fast development of AI needs to be supported by the necessary regulatory insight and oversight for AI-based technologies to enable sustainable development. Failure to do so could result in gaps in transparency, safety, and ethical standards.

Download Publication „The role of artificial intelligence in achieving the Sustainable Development Goals“ here.

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Insektenatlas 2020

Insektenatlas 2020

Es summt, brummt und krabbelt immer weniger – vor allem dort, wo intensive Landwirtschaft betrieben wird. Große Felder, Pestizide und monotone Landschaften nehmen den Insekten ihre Lebensräume. Daher hat das Insektensterben in Deutschland, Europa und weltweit bedrohliche Ausmaße angenommen. Das ist umso dramatischer, als Insekten eine der fundamentalen Lebensgrundlagen unserer Welt sind. Die Landwirtschaft und somit Ernährung von Milliarden von Menschen sind untrennbar mit Insekten verknüpft: Unzählige landwirtschaftliche Kulturpflanzen profitieren von Bestäubern. Ohne ihre Leistung würden gerade Obst und Gemüse in unseren Kühlschränken zur Mangelware.  

Warum insbesondere die industrielle Agrarindustrie die Lebensräume der Insekten so massiv bedroht, welche Auswege möglich sind und viele weitere spannende Aspekte erklärt der Insektenatlas, der von der Heinrich-Böll-Stiftung, BUND und Le Monde Diplomatique herausgegeben wird. Er liefert Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft, formuliert die Kritik an der zu zögerlichen Politik und benennt auch gerade mit Blick auf die 15. Weltnaturschutzkonferenz in China und den Vorsitz Deutschlands im Rat der Europäischen Union im kommenden Jahr, die dringend notwendigen Schritte zum Schutz der Insekten.

Die Publikation „Insektenatlas – Daten und Fakten über Nütz- und Schädlinge in der Landwirtschaft“ können Sie hier als Printversion bestellen oder hier als PDF herunterladen.

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„Rettet den Boden!“ von Florian Schwinn

„Rettet den Boden!“ von Florian Schwinn

Die Böden unter unseren Füßen sind unsere Lebensgrundlage. Wir leben auf und von ihnen. Ein Millimeter fruchtbarer Boden kann dreihundert Jahre zum Aufbau benötigen. Waren die Landwirte vor der Industrialisierung noch darauf angewiesen, Humus aufzubauen, um die Böden lebendig zu erhalten, nutzt die moderne Landwirtschaftsindustrie den Boden nur noch als bloßes Substrat, in das die Überproduktion von Exkrementen der industriellen Fleischfabrikation als Dünger eingebracht wird.

Die Gesundheit der Böden und der Menschen, die seine Früchte täglich essen, ist dabei vollkommen aus dem Blick geraten. Florian Schwinn fordert in seinem neuen Buch „Rettet den Boden!“ dringend, eine Humuswende zur Rettung der Böden einzuleiten. Denn wenn die Böden erst einmal abgetötet sind, brauchen wir nicht mehr umzudenken – dann verliert auch die biologische Landwirtschaft der Zukunft den Boden unter den Füßen.

Über den Autor: Florian Schwinn (Jahrgang 1954) ist Journalist im Bereich Politik und Wissenschaft. Er hat für Print und Hörfunk gearbeitet, Radiofeature produziert und moderiert beim Hessischen Rundfunk die mehrfach ausgezeichnete Radiosendung „Der Tag“. Seit vielen Jahren bearbeitet er Umweltthemen und kümmert sich um die Ausbeutung und den Schutz der natürlichen Ressourcen und unser zwiespältiges Verhältnis zu den „anderen“ Tieren.

Rettet den Boden! Warum wir um das Leben unter unseren Füßen kämpfen müssen“ von Florian Schwinn, Westend Verlag 2019.

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Beratungsmodul für Ernährungsräte: Ernährungswende jetzt!

Beratungsmodul für Ernährungsräte: Ernährungswende jetzt!

Wie sicher ist unser tägliches Brot? Die immer vollen Regale unserer Supermärkte gaukeln uns Verlässlichkeit vor, doch die globale Nahrungskette, von der wir abhängen, wir immer brüchiger. Klimawandel, Dürren und Überschwemmungen, politische Spannungen und kriegerische Auseinandersetzungen gefährden den Nachschub. Im Ernstfall reichen unsere Vorräte höchstens drei Tage.

Ernährungssicherheit, Klimawandel, Artensterben, Unterernährung und Überkonsum sind untrennbar miteinander verknüpft und zeigen, dass unsere Ernährung nach einer neuen soliden Basis verlangt. Die liegt nicht mehr im globalen Handel, sondern in der Region, auf den Feldern und Wiesen vor unseren Haustüren, in nachhaltig wirtschaftenden Bauernhöfen, in einem lebendigen Lebensmittelhandwerk, in regionalen Märkten, in lokaler Wertschöpfung und Wertschätzung.

Die Forderung nach einer grundsätzlichen Wende der Ernährungspolitik wird schon seit Jahren lauter, doch die Politik in Berlin und Brüssel bleibt bei ihrem „Weiter so“, verweigert sich der Herausforderung. Die aktuell weltweit immer lauter werdenden Proteste vor allem der jungen Generation zeigen: die Unzufriedenheit wächst. Die Zivilgesellschaft schweigt dazu nicht länger. Sie fordert nicht nur eine Ernährungswende, sondern nimmt sie auch selbst in die Hand. In immer mehr Städten und Gemeinden baut die Zivilgesellschaft neue Brücken zwischen Bauern und Bürgern, entwirft lokale Ernährungskonzepte und fordert, dass die Vorsorge für gutes und sicheres Essen zum Teil lokaler Politik wird.

Aber wo fängt man an, wenn man solche großen Veränderungen vorantreiben will? Wer macht mit beim Umbau? Wie webt man ein tragfähiges soziales Netz? Wie bringt man auch gegensätzliche Interessen unter einen Hut? Wie weckt man das Interesse für das Politische im Essen?
Immer mehr Initiativen weltweit verfolgen diesen Weg, einige haben ihn schon erfolgreich begangen. Auch bei uns gewinnt die Bewegung an Fahrt. Das Rad muss nicht zweimal erfunden werden: Wir haben die wichtigsten Erfahrungen zusammengetragen und auf ihre Praxistauglichkeit getestet. In diesem Leitfaden findet ihr, was sich bisher bewährt hat.

Viel Erfolg bei eurer Gründsinitiative wünscht Euch das Institut für Welternährung!

 

Dieses Projekt wurde gefördert durch das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Die Mittelbereitstellung erfolgt auf Beschluss des Deutschen Bundestages.

Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen und Autoren.

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100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft

100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft

Seit Wochen protestieren Bäuerinnen und Bauern gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung und für mehr gesellschaftliche Wertschätzung. Angesichts der Proteste hat Angela Merkel heute Vertreter der Agrarbranche zum Agrargipfel ins Kanzleramt eingeladen, um mit ihnen über die Zukunft der Landwirtschaft zu diskutieren.

100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft

Von Wilfried Bommert und Manfred Linz

Die Wirtschaftsberatungsgesellschaft Boston Consulting Group hat sich die deutsche Landwirtschaft vorgenommen. Unter dem Titel: „Die Zukunft der deutschen Landwirtschaft nachhaltig sichern – Denkanstöße und Szenarien für ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit“ greift sie in die gegenwärtig so lebhafte Diskussion um den Kurs der Agrarpolitik in Deutschland ein. Und bescheinigt der gegenwärtigen Agrarpolitik die skandalöse Missachtung aller Prinzipen der Ökonomie. Nach ihrer Rechnung stehen Kosten von 100 Milliarden Euro nur einem landwirtschaftlichen Produktionswert von 20 Milliarden Euro gegenüber. Sie rät zu drastischen Reformen, und scheut sich nicht, auch mächtigen Interessen auf die Füße zu treten.

Das Besondere: Für Diagnose und Therapie wählt sie einen Ansatz, der ihr die Aufmerksamkeit vieler sichern kann, die mit einer ethischen oder zukunftsgefährdenden Argumentation nicht leicht zu erreichen sind. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt nämlich bei einer gesamtgesellschaftlichen Gewinn- und Verlustrechnung, also beim Geld. Sie fragt, zu welchen Kosten die deutsche Landwirtschaft zwischen Boden- und Nordsee, Oder und Rhein gegenwärtig wirklich produziert, sie analysiert die wahren Kosten der intensiven Landwirtschaft. Dabei werden Positionen sichtbar, die in der Buchhaltung der Landwirte und in den Preisen für ihre Produkte bisher keine Geltung finden.

Verantwortlich dafür ist die Art, wie die intensive Landwirtschaft hierzulande betrieben wird. Ihre Kostenpositionen klopfen die Prüfer einzeln ab. Synthetischer Dünger und Pestizide schädigen Bodenleben und Grundwasser, großflächige Monokulturen lassen die Böden ein leichtes Opfer für Wind und Wasser werden und tragen den Humus ab. Diese Wirtschaftsweise hinterlässt verdeckte Kosten, die die Wirtschaftsprüfer der Boston Consulting auf 40 Milliarden Euro pro Jahr schätzen.

Ähnliches gilt für den massiven Verlust an Artenvielfalt, die Auswirkung der Intensivlandwirtschaft auf das Klima, den Wasserhaushalt, die Luftqualität und den Zustand von Kultur- und Erholungslandschaften. Auch hier entstehen verdeckte Kosten, die noch  einmal mit jährlich 50 Milliarden Euro zu Buche schlagen.

Rechnet man die Subventionen hinzu, die jedes Jahr aus den Brüsseler Töpfen und dem Bundeshaushalt für die Landwirtschaft ausgegeben werden, dann steigen die Kosten der deutschen Landwirtschaft auf 100 Milliarden Euro pro Jahr. Ihnen steht ein Produktionswert für Getreide, Kartoffeln, Milch und Fleisch von nur 20 Milliarden Euro gegenüber. Die bisher nicht eingerechneten Kosten der deutschen Landwirtschaft liegen also um den Faktor fünf höher als der Wert ihrer Waren – pro Kopf jährlich 1.200 Euro. Wirtschaftlich gesehen ist das eine Bankrotterklärung für die landwirtschaftlichen Unternehmen. Und nicht anders für die Politik  die diese Bilanz seit Jahrzehnten deckt.

Die Kur, die Boston Consulting als Wirtschaftsberatungsgesellschaft der Industrie der Landwirtschaft  vorschlägt, entspricht den Regeln jeder Unternehmensberatung: verdeckte Kosten aufdecken, Wirtschaftlichkeit durch Kostensenkung erhöhen. Konkret geht es um eine Minimierungsstrategie. Dabei zeigt sich, dass einzelne Maßnahmen nur geringe Entlastung bringen, wie die Tierhaltung an die Fläche binden, Zwischenfrüchte, Untersaaten, Leguminosen anbauen oder Brachland ruhen lassen. Auch der Verzicht auf Dünger und Agrarchemie bringt nicht mehr als 15 %  an Kostensenkung.  

Was wirklich hilft, sind grundsätzliche Weichenstellungen, radikale Veränderungen.  Die Berater halten vier Szenarien für bedenkenswert.

  • Die Landwirtschaft gibt ihre Exportambitionen auf und produziert nur noch für den deutschen Markt. Dies würde dazu führen, das die Zahl der Masttiere deutlich gesenkt werden könnte, die Umweltschäden durch Importfutter und Gülle ebenfalls. Fast die Hälfte des gegenwärtig in Deutschland erzeugten Fleisches wird für den Export produziert und verursacht allein rund 40 Prozent der versteckten Kosten der deutschen Landwirtschaft.  
  • Auch bei den Konsumentinnen und Konsumenten sieht Boston Consulting Potential: Würde der Fleischkonsum entsprechend den Empfehlungen der internationalen EAT-Lancet-Kommission auf ein Viertel des heutigen Verbrauches sinken, könnten 25 Prozent der versteckten Kosten der Landwirtschaft aus der Welt geschafft werden.
  • Kann das Wegwerfen von Nahrungsmittel ganz ausgemerzt werden, sind noch einmal 15 Prozent an Einsparung zu erwarten.
  • Das größte Potential aber liegt in der Kombination der Varianten.  

Wenn Dünger und Pestizide stark vermindert würden, wenn die deutsche Landwirtschaft ihre Weltmarktambitionen aufgeben und  nur noch Fleisch für den Inlandverbrauch produzieren würde, wenn Lebensmittelverschwendung auf Null gebracht und die Kultur des Sonntagsbraten wieder Einzug halten dürfte, dann, so lautet das Urteil der Boston Consultants, könnten insgesamt 80 Prozent der bisher             versteckten Kosten in der deutschen Landwirtschaft vermieden werden.

20 Prozent blieben übrig als „unvermeidbarer“ Rest. Die entsprächen dann dem tatsächlichen Wert der Produktion. Und damit wäre die Mission der Berater beendet. Ein Erfolg wäre sie dennoch nicht. Zwar machen die vorgeschlagenen Operationen einen erheblichen Schritt hin auf mehr Ökologie. Gleichzeitig wird aber erkennbar, dass es sich dabei nur um eine Reparatur des derzeitigen Agrarsystems handelt. Eine grundlegende Wende zur Nachhaltigkeit wird nicht in den Blick genommen. Und so bleiben die Hauptnachteile des Systems für die Bauern auch bestehen. Sie liegen im dramatischen Preisdruck, den das herrschende System immer wieder erzeugt. Und der entsteht aus den Marktstrukturen, denen die Bauern ausgeliefert sind: Märkte für gesichtslose Massenware; Kleinproduzent gegen Monopole in Verarbeitung und Handel.

Solange es nicht gelingt den Bauern und ihren Produkten wieder einen Wert zu geben, der auf Wertschätzung beruht, werden sie keine besseren Preise erwarten können. Wertschätzung für sie als Menschen, für ihre Arbeit und damit auch für das, was sie mit Säen und Ernten. Diese Wertschätzung lässt sich nicht durch Kostenminimierung schaffen. Sie gedeiht vor allem dort, wo Nähe entstehen kann, an runden Tischen etwa, an denen Bauern und Bürger darüber nachdenken, wie die Region und ihre Lebensmittel wieder in Wert gesetzt werden können und sie so entstehen, das die Kosten nicht versteckt werden müssen, sondern vom Preis abgedeckt werden. Das wären die wahren Preise. Die liegen dann höher, als das was heute in den Supermärkten angepriesen wird, aber enthalten das, was den konventionellen Produkten heute fehlt: Enkeltauglichkeit.

Solche runden Tische sind keine reine Utopie; in mehr als 20 Städten der Republik arbeiten sie schon, eine große Koalition der Zivilgesellschaft auf den Weg zu neuen wertschätzenden Ernährungskonzepten. Unter den Koordinaten: regional, ökologisch und fair beginnt dort eine ökologische Transformation. Nur sie kann die zwingend notwendige Resilienz erreichen, die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit unseres Ernährungssystems, ohne die die Herausforderungen der Klimakrise nicht zu meistern sind.

IWE100 Milliarden, die wahren Kosten der deutschen Landwirtschaft